Weiterbildungssystem

Klaus Harney & Josef Schrader

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-295

Alltagssprachlich bezeichnet der Begriff W. zumeist den sog. quartären Sektor des Bildungssystems. In der Wissenschaft wird der Begriff vorzugsweise genutzt, um die Frage zu beantworten, ob Weiterbildung ein Funktionssystem darstellt, allein oder als Teil des gesamten Bildungswesens. Diese Diskussion begann zu einem Zeitpunkt, als der institutionelle Ausbau des vierten Bildungsbereichs ins Stocken zu geraten schien (Lenzen & Luhmann, 1997).

Bezug genommen wurde v. a. auf die Luhmann‘sche Systemtheorie. Sie vertritt jene Variante des Strukturalismus, die sich von akteurtheoretischen Zugängen scharf abgrenzt. In deren Rahmen gehen die Rationalitäten gesellschaftlicher Institutionen in die Orientierung der in ihnen handelnden Personen ein und treten dort als Interesse oder Kalkül auf.

Für den Begriff W. ist die Differenz zwischen Akteur und System zentral: Akteurtheoretisch bedarf es der Weiterbildung als Interessen und Zwecke begründende Institution des lebenslangen Lernens (lifelong learning), aber nicht als System. Als System wirft sie die akteurtheoretisch außerhalb des Blickfelds liegende Frage nach ihrer sinnhaften Geschlossenheit auf. Teilnehmende an Weiterbildung sind aus der Perspektive des Systembegriffs keine Akteure, die Zwecke verfolgen, sondern Personen, die in verschiedenen Lebenslagen und Zusammenhängen den Sinn der Weiterbildung benötigen, um zu kommunizieren. Sinn sorgt dafür, dass Personen kommunikativ damit rechnen können, von anderen verstanden zu werden, und ihre sprach-, entscheidungs- und handlungsbezogenen Äußerungen daran ausrichten. Funktionssysteme stellen zentrale Sinnorientierungen als Leitdifferenzen (Familie, Recht, Politik, Religion, Bildung, Wirtschaft usw.) bereit, die dann als zugehörige, verweisende Sinnorientierung in den kleineren Kontextformationen von Organisation und Interaktion unterschieden und zugleich erwartet werden: Man darf in der Familie oder unter Freunden für Leistungen nicht bezahlen, dafür aber in der Weiterbildung (Harney, Hovemann & Hüls, 2000). Die Frage nach dem Systemcharakter der Weiterbildung lässt sich beziehen auf das Medium des Weiterbildungssystems (z. B. Lernfähigkeit), auf ihre Form (z. B. Kompetenzentwicklung) sowie auf Funktion und Leistung pädagogischer Kommunikation (z. B. Bereitstellung von vermittelbarem Wissen, das andere Funktionssysteme für ihre Zwecke nutzen können).

Seit den 1990er Jahren gibt es eine zu Weiterbildungskontexten teils eher akteur-, teils eher strukturalistisch orientierte Weiterbildungsforschung, in deren Rahmen diese Problematik bearbeitet werden kann. Beispielhaft können hierzu Arbeiten von Rolf Arnold, Heiner Barz, Bernd Dewe, Jörg Dinkelaker, Stefanie Hartz, Jochen Kade, Klaus Harney, Harm Kuper, Dieter Nittel, Ortfried Schäffter, Josef Schrader, Wolfgang Seitter, Rudolf Tippelt und Jürgen Wittpoth angeführt bzw. ausgewertet werden. Die Problematik ist nicht abschließend geklärt. Der Tendenz nach trägt eine kontextdifferenzierte Weiterbildungslandschaft (Schrader, 2011) dazu bei, die gesellschaftliche Kommunikation zur Weiterbildung in ganz unterschiedliche Bereiche hinein zu pädagogisieren. Das würde, systemtheoretisch gewendet, dafür sprechen, dass sich die Weiterbildung funktionssystemisch etabliert hat – ähnlich generalisiert wie das Geld, die Religion oder auch die Gesundheit. Genauer zu untersuchen bleibt allerdings u. a. die Frage, wie sich eine funktionssystemspezifische Ausdifferenzierung auf der Ebene der Organisationen zur Ebene der Interaktion verhält, auf der empirisch nicht nur pädagogische Kommunikation beobachtet wird, sondern auch Kommunikation, die man eher in anderen Sozialsystemen wie der Medizin (quasi-therapeutische Angebote), der Religion (vagabundierende Sinnstiftung) oder der Lebenswelt (Geselligkeit) erwarten würde.

Literatur

Harney, K., Hovemann, M. & Hüls, R. (2000). Das Zahlungsbereitschaftspotential von Weiterbildungsteilnehmern: Strategien der Informationsbeschaffung und -aufbereitung am Beispiel des beruflichen Verwertungsmotivs. In B. Dewe (Hrsg.), Betriebspädagogik und berufliche Weiterbildung. Wissenschaft – Forschung – Reflexion (S. 135–154). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Lenzen, D. & Luhmann, N. (Hrsg.). (1997). Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanonotogenese als Medium und Form. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Schrader, J. (2011). Struktur und Wandel der Weiterbildung (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, Bd. 17). Bielefeld: W. Bertelsmann.

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