Weiterbildungspolitik

Ekkehard Nuissl

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-294

W. ist ein relativ junges Feld staatlicher Bildungspolitik und betrifft Inhalte, Prozesse und Strukturen der Weiterbildung gleichermaßen. Erste Ansätze der W. finden sich in den Volksbildungsbewegungen des 19. Jh. und in der Arbeiterbewegung als Mittel im Klassenkampf. In Gesetze fand W. erstmals Eingang in der Weimarer Republik (höchstrangig in der Verfassung), was 1919/20 auch zur Gründung der meisten Volkshochschulen führte. Während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wurde W. im Kontext von Propaganda und zur Verbreitung der Rassenideologie eingesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg zielte die Politik der Besatzungsmächte in Westdeutschland darauf ab, die Weiterbildung zur Umerziehung der erwachsenen Bevölkerung zur Demokratie in die Pflicht zu nehmen (politische Bildung; Reeducation). Im Osten Deutschlands wurde Weiterbildung auf die sozialistische Schulung der Bevölkerung konzentriert.

Mit dem Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen zeichnete sich 1960 in Westdeutschland erstmals ein erweitertes Verständnis von Weiterbildung als Gegenstand von Bildungspolitik ab. Die in Verbänden und Vereinen bzw. in kommunaler Trägerschaft veranstaltete Weiterbildung wurde als Einheit gesehen und eine gesellschaftliche Zuständigkeit für sie proklamiert. In den darauffolgenden zehn Jahren, die bildungspolitisch von der Diskussion um die „Bildungskatastrophe“ beherrscht wurden, gewann Weiterbildung immer mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Mit dem Erscheinen des „Bildungsgesamtplans“ der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung im Jahr 1970 und des „Strukturplans für das Bildungswesen“ des Deutschen Bildungsrats im Jahr 1973 wurde die Weiterbildung als „vierte Säule“ des Bildungswesens deklariert (Weiterbildungssystem) und eine staatliche W. explizit konstituiert (Dröll, 1999). In der Folge erließen nahezu alle Länder der Bundesrepublik Deutschland Weiterbildungsgesetze (Hessen zudem ein Volkshochschulgesetz) sowie ein Bildungsurlaubsgesetz (Recht der Weiterbildung). In diesen Gesetzen sind insb. die Bedingungen für den Erhalt einer öffentlichen (staatlichen) Förderung in der W. geregelt (staatliche Weiterbildungsförderung).

W. ist im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland Angelegenheit der Länder. Eine Ausnahme bildet hierbei die berufliche Fort- und Weiterbildung (berufliche Weiterbildung; Fortbildung), die mit der beruflichen Bildung (Berufsbildung) bundesweit geregelt wird. Dennoch erfolgen manche weiterbildungspolitischen Aktivitäten in Zusammenarbeit von Bund und Ländern, so z. B. die Weiterbildungsstrategie von Bund-Länder-Kommission und Kultusministerkonferenz im Jahr 2002 oder die bundesweite Nationale Weiterbildungsstrategie (NWS) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), gemeinsam mit den Sozialpartnern und den Ländern im Jahr 2019, die eine Sammlung von Maßnahmen zur Förderung der beruflichen Bildung umfasste.

Der staatlichen W. in Deutschland (wie auch in Österreich und der Schweiz) liegen zwei Prinzipien zugrunde (Nuissl, 2018):

  1. Das Prinzip der Pluralität in der W. (Pluralismus) betont die Existenz und Anerkennung unterschiedlicher Träger und Veranstalter der Weiterbildung, wie Kirchen, Sozialpartner, Parteien und Kommunen (Weiterbildungsanbieter), die oft auch im eigenen Interesse zum Angebot an Weiterbildung beitragen.
  2. Das Prinzip der Subsidiarität bedeutet, dass staatliche W. überall dort aktiv wird, wo bestimmte staatliche oder gesellschaftspolitische Ziele im freien Spiel der Kräfte nicht oder nur unzureichend erreicht werden (öffentliche Verantwortung).

Dabei kon­zen­triert sich W. generell auf bestimmte Bildungsinhalte (insb. politische Bildung), bestimmte Zielgruppen (insb. Benachteiligte, Migrantinnen und Migranten, Arbeitslose, Analphabetinnen und Analphabeten) sowie bestimmte Supportstrukturen (Bildungsinformation, Bildungsberatung und übergreifende Bildungswerbung). In anderen Bereichen, wie Qualität, Professionalität, neue Lehr- und Lernkulturen sowie Übergänge im Bildungssystem (z. B. Zertifikate und Abschlüsse), entwickelte die W. weitere Handlungsfelder, die in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland jeweils unterschiedlich ausgeprägt sind.

Instrumente der W. sind Maßnahmen, welche sich auf die Förderung und Ordnung der Weiterbildung beziehen. In Bezug auf die Förderung richtet sich W. an Lernende, Anbieter und übergreifende Strukturen wie Verbände oder Gremien sowie an Instanzen, in denen gemeinsame Aspekte der Weiterbildung beraten werden. Im Verhältnis von Lernenden und Anbietern geht W. immer mehr von der angebots- zur nachfrageorientierten Finanzierung der Weiterbildung über (z. B. mittels Finanzierungsmodelle wie Bildungsgutscheine oder steuerliche Absetzbarkeit von Weiterbildungskosten). Auch über Projekte und Programme (z. B. Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken und Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung – AlphaDekade) setzt W. staatliche Ziele förderpolitisch um. Hinsichtlich der Ordnung der Weiterbildung geht es um die Festlegung von Standards (z. B. Qualität, Akkreditierung) sowie die Regelung von Informations- und Entscheidungsprozessen. Dazu gehört auch die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen staatlichen, für die Weiterbildung relevanten Ressorts auf den verschiedenen regionalen Ebenen sowie die konzeptionelle Entwicklung einer tragfähigen Weiterbildungsstruktur, wie dies in den 1970er Jahren über einen Weiterbildungsentwicklungsplan in Nordrhein-Westfalen versucht wurde. Auch begleitende und vorbereitende Forschungs- und Entwicklungsprojekte sind ordnungspolitische Instru­mente der W.

Als offener und nur teilsystematisierter Bereich bietet sich Weiterbildung politisch als Feld der Governance-Politik an, d. h. einer Politik, die neben staatlichen Akteuren auch zivilgesellschaftliche Personen, Verbände und Institutionen für die Strukturen, Prozesse und Ergebnisse der Weiterbildung in die Pflicht nimmt (Educational Governance). Konkrete Governance-Maßnahmen weist die Weiterbildung bspw. im Forum Bildung (2001), im Innovationskreis Weiterbildung (2007) oder auf Länderebene im Sachverständigenrat Weiterbildung in Rheinland-Pfalz (2005) auf. Auf Ebene der Europäischen Union (EU) wird im Bildungsbereich nach dem Prinzip der offenen Koordinierung verfahren, eine Form der zwischenstaatlichen Politikgestaltung, die keine verbindlichen EU-Maßnahmen zur Folge hat und den EU-Ländern nicht die Einführung oder Änderung ihrer Gesetze auferlegt (europäische Erwachsenenbildung). Ebenso wie national auf der Grundlage der Prinzipien Pluralität und Subsidiarität beraten Gremien (sog. Fokusgruppen) unter der Beteiligung der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten und der in ihnen relevanten Gruppierungen über die W. mit dem Ziel, die nationalen Politiken auf die Realisierung bestimmter gemeinsamer Ziele auszurichten (Nuissl, Lattke & Pätzold, 2010).

Literatur

Dröll, H. (1999). Weiterbildungspolitik. Politische Positionen zum vierten Bildungssektor – ein Überblick (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Maschke, T., Nuissl, E. & Lattke, S. (2010). Europäische Perspektiven der Erwachsenenbildung (Reihe Studientexte für Erwachsenenbildung, Bd. 12). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Nuissl, E. (2018). Ordnungsgrundsätze der Erwachsenenbildung in Deutschland. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., Bd. 1, S. 499–520). Wiesbaden: Springer VS.

Schmid, J., Amos, K., Schrader, J. & Thiel, A. (Hrsg.). (2016). Internationalisierte Welten der Bildung. Bildung und Bildungspolitik im globalen Vergleich (Reihe Wirtschafts- und Sozialpolitik, Bd. 16). Baden-Baden: Nomos.

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