Verstehen – Verständigung

Sigrid Nolda

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-282

Das Wort Vn. meint neben dem akustischen Wahrnehmen das Erfassen von Sinn. Auch wenn der kognitiven Komponente von Wissen eine besondere Bedeutung zukommt, so ist ein Vn. doch nicht ohne Können und Fühlen leistbar. Neben der alltäglichen Bedeutung hat sich auf der Basis der theologischen und juristischen Hermeneutik sowie der historischen Schule eine Form des „wissenschaftlichen Verstehens“ von Texten und von anderen Menschen herausgebildet, die von Wilhelm Dilthey in einen Gegensatz zum „naturwissenschaftlichen Erklären“ gesetzt wurde. Aus linguistischer, psychologischer, soziologischer und ethnologischer Sicht wurde das Vn. als ein Umgang mit Fremdem akzentuiert. Vn. wird heute nicht als objektiver Prozess, sondern als Konstruktion begriffen, die von biografischen, situativen und gesellschaftlichen Voraussetzungen abhängig und in einer prinzipiellen Weise unabgeschlossen ist, dabei aber im wissenschaftlichen Gebrauch im Bewusstsein ihrer Relativität einem methodisch kontrollierten Vorgehen unterworfen sein sollte.

Das Vn. kann in der Erwachsenenbildung als Lernziel von Lehr-Lern-Situationen mit unterschiedlichen Lehrobjekten gelten und somit als ein von Lehrenden angeleiteter Prozess, der aber immer an jenes Vn. anschließt, das Erwachsene alltäglich, meist nicht-­reflexiv und unter Handlungsdruck ausüben. Daneben kann aber auch die Erfassung der Erwachsenenbildung als wissenschaftlichem Objekt einen verstehenden Zugang nahelegen – v. a. dann, wenn es um die Auslegung von Texten, die in diesem Bereich entstanden sind und ihn formen, und die Deutung von Interaktionen in Lehr-Lern- oder Beratungssituationen (Beratung im Kontext lebenslangen Lernens) geht.

Ein Vn. ist Voraussetzung für und Teil von Vg. Während das Vn. auf einen Abschluss zielt, ist gegenseitige Vg. eher ein Prozess, der prinzipiell immer wieder neu aufgenommen werden kann. Ausgehend vom Diskurskonzept (Diskurs) von Jürgen Habermas hat Erhard Schlutz in den 1980er Jahren ein Modell der Vg. in der Erwachsenenbildung entwickelt, das Vg. in Lernsituationen Erwachsener als partnerschaftliches Bemühen um ein Einverständnis versteht, das auf argumentativer Auseinandersetzung und dem Aufheben von Selbstverständlichkeit beruht. Das Modell der Vg. hebt sich damit vom Qualifikationsmodell (Qualifikation) ab, das auf die Zweckdienlichkeit für ein Handeln jenseits der Lehr-Lern-Situation fokussiert, und vom Interaktionsmodell, das auf die Gegenwart der unterrichtlichen Gesprächssituation gerichtet ist. Die Entlastung vom Handlungsdruck und der Vorrang des Arguments vor der Position des Sprechenden kennzeichnet eine solche Vg. als rationales Lernen. Schlutz sieht in der diskursiven Vg. eine Grundfigur für Lernsituationen Erwachsener, die mit den unterschiedlichen Lernabsichten und Lernformen vermittelt werden soll.

Aus subjektwissenschaftlicher Sicht hat Joachim Ludwig dieses Modell gewürdigt, aber den Akzent auf die kooperative Selbstverständigung von Lehrenden und Lernenden gelegt, die auch die Erkenntnis persönlicher und gesellschaftlicher Lernmöglichkeiten und -barrieren umfasst. Demnach geht es nicht um Übereinkunft mit anderen, sondern um die Vg. mit sich selbst in Differenz zu anderen. Eine Übereinstimmung sei dann möglich, aber nicht das Ziel. Auch wenn eine Differenz zum anderen festgestellt wird, so sei doch immer die Achtung bzw. Anerkennung des anderen geboten.

Urhebende und Anwendende des Modells diskursiver Vg. waren sich über dessen utopische Dimension im Klaren, trauten aber der Vorstellung von unverzerrter Kommunikation auch zu, generelle Verzerrungen gesellschaftlicher Kommunikation sichtbar zu machen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Empfehlung, in Veranstaltungen der Erwachsenenbildung Möglichkeiten der nicht-strategischen Vg. zu bieten, sowohl eine bildende als auch eine politische Dimension.

Der Vg. in Lehr-Lern-Situationen Erwachsener steht – speziell in der politischen Bildung und interkulturellen Erwachsenenbildung – die Vg. als ein außerhalb dieser Situationen zu realisierendes Ziel zur Seite. Auch in diesem Zusammenhang werden in letzter Zeit stärker Grenzen der Vg. und die Bildungschance durch den Umgang mit dem Nicht-Verständlichen thematisiert.

Literatur

Schlutz, E. (1984). Sprache, Bildung und Verständigung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Ludwig, J. (2000). Lernende verstehen. Lern- und Bildungschancen in betrieblichen Modernisierungsprojekten (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Zahn, A. (2021). Verständigung unter Ungleichen. Eine soziologische Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M.: Campus.

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