Systemische Erwachsenenbildung

Rolf Arnold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-267

Die s. E. kann als eine Weiterentwicklung des Konzepts der „konstruktivistischen Erwachsenenbildung“ (Arnold & Siebert, 2004) angesehen werden (Konstruktivismus). Der systemische Ansatz in der Psychologie, Pädagogik und den Beratungswissenschaften ist stärker umsetzungsorientiert und folgt dem Grundsatz des amerikanischen Pragmatismus truth is what works. Er wird deshalb auch verstärkt in den Kontexten organisationaler Transformation größerer Bildungsprovider aufgegriffen und korrespondiert mit deren Erwartungen, ihre Organisationen auch „von innen heraus“, d. h. durch die lernende Veränderung der Beobachtungs- und Deutungsroutinen der Akteure, verändern zu können.

Der systemische Blick auf die lernenden Suchbewegungen Erwachsener ist in seinen wesentlichen Grundlinien durch Ernst von Glasersfeld (1995), Humberto R. Maturana und Francisco Varela (1987) sowie durch die Beiträge von Niklas Luhmann, aber auch durch die Arbeiten von Ludwig Wittgenstein vorbereitet worden. Dieser Blick ist in dreifacher Hinsicht überraschend anders. So gehen systemische Theorien nicht einfach davon aus, dass es z. B. die Erwachsenenbildung „gibt“, da es ja Volkshochschulen, Akademien oder Weiterbildungsseminare „gibt“. Sie fragen vielmehr danach, wie diese konstruiert wurden und welche unausgesprochenen Annahmen dabei eine Rolle spielten. Dabei berücksichtigen sie, dass alle Aussagen über die Welt von Beobachtenden getroffen wurden, und auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bzw. Forschende letztlich nur ihre eigenen Beobachtungen berichten können. Und diese Beobachtungen entstammen menschlichen Gehirnen, aus denen sie mit Erfahrungen, Begriffen und Betrachtungsformen vermischt nach außen dringen. Zwar liest man dann Beschreibungen wie:
„Erwachsene müssen motiviert werden, da sie lernentwöhnt sind!“, doch führt dies dazu, dass man auch auf die lernenden Erwachsenen als die zu motivierenden und lernentwöhnten Menschen schaut, von denen die Rede war.

Es ist den systemisch-konstruktivistischen Ansätzen zu verdanken, dass solche Formen einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung deutlicher in den Blick gerückt wurden. Damit haben diese Ansätze auch für die Aus- und Weiterbildung von Erwachsenenbildenden (Weiterbildung der Weiterbildenden) neue Möglichkeiten eröffnet (Arnold & Siebert, 2004), da sie deren Professionalisierung zu Lernbegleitenden deutlich fokussieren und
als einen Prozess der Auseinandersetzung mit den gelernten bzw. eingewöhnten Vorstellungen von Lehren und Lernen sowie Identitäts- (Identität) und Kompetenzentwicklung (Kompetenz) zu gestalten halfen. In reflexiven Lernprozessen beobachten Erwachsenenbildende nicht nur, wie andere Menschen beobachten, sich Erfahrungen aneignen und diesen in ihren Schlussfolgerungen und Handlungen „treu“ bleiben; sie lernen auch, sich selbst – als Erwachsene – reflexiv zu betrachten. Ein wesentlicher Schritt einer solchen systemischen Selbstreflexion (Motto: „Auch ich bilde die Wirklichkeit nicht ab, sondern drücke in dem, was ich beobachte, erkenne und für wahr halte, auch nur aus, was ich durch die Brillen meiner Erfahrungen zu sehen und zu erkennen vermag!“) ist die Öffnung gegenüber anderen und neuartigen Möglichkeiten. Lernende Erwachsenenbildende können dann z. B. mit ihrer Lernfähigkeit, ihren Erfolgen und Talenten besser „in Erscheinung treten“ – die Systemtheorie spricht vom „Emergenz“ – als ihnen dies gelingen würde, wenn sie durch ihre „Erfahrungen“ problemfokussierend auf die Motivations- und Lernschwierigkeiten blickten. Eine systemische Professionalisierung der Lehrenden in der Erwachsenenbildung ist somit per se „verändernd“, da sie Räume schafft, sich darin zu üben, die Welt bzw. das Gegenüber in einer anderen Weise in Erscheinung treten zu lassen, als es die eigenen Erfahrungen und Gewohnheiten erlauben würden.

S. E. basiert auf einer angewandten Theorie vom Erkennen und von der lernenden Veränderung der Wahrnehmung, ähnlich wie die Praxis des Erwachsenenlernens stets mit der Veränderung und Weiterentwicklung der bisherigen Selbstbilder der Erwachsenen und der Erweiterung ihrer Deutungsmuster und Handlungsmöglichkeiten einhergeht. Es ist diese Form eines systemischen Denkens, die auch die eigenen Begriffe hinterfragt, die eine wissenschaftliche Analyse leiten. Erst wenn wir begreifen, wie wir uns das Erwachsensein gewohnheitsmäßig „denken“, können wir uns auch darum bemühen, das Erwachsensein neu zu denken und dadurch auch – in seinen Möglichkeiten – neu zu gestalten. Dieser systemische Ansatz wurde und wird bereits breit erprobt, u. a. im Kontext der landesweiten Etablierung des neuen Lernmodells LENA (Lebendiges und Nachhaltiges Lernen) durch das Wirtschaftsförderungsinstituts (WIFI) der Wirtschaftskammer Österreich, der Lehrerbildung einzelner deutschen Bundesländer (z. B. Brandenburg und Saarland), des Aufbaus und der Ausgestaltung des Virtuellen Campus Rheinland-Pfalz (VCRP) an der der Technischen Universität Kaiserslautern durch die Landeshochschulpräsidentenkonferenz (LHPK) und der Entwicklung des PädProf-Ansatzes durch DB Training, Learning & Consulting der Deutschen Bahn AG.

Die beobachtertheoretischen Überlegungen legen es nahe, dass sich auch eine Theorie des Lernens Erwachsener zunächst mit der Frage befasst, wie verbraucht oder unverbraucht die Vorstellungen und Begriffe sind, mit denen gearbeitet wird, wenn von „Erwachsenen“, „Bildung“, „Lehren“ oder „Lernen“ gesprochen wird, wie dies gewiss zu sein scheint. Hier mahnen systemisch-konstruktivistische Erkenntnistheorien zur Zurückhaltung und geben u. a. zu bedenken: „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt. […] Der Beobachter ist ein menschliches Wesen, d. h. ein lebendes System, und alles was lebende Systeme kennzeichnet, kennzeichnet auch ihn. […] Der Beobachter ist ein lebendes System, und jede Erklärung der Kognition als eines biologischen Phänomens muss eine Erklärung des Beobachters und seiner dabei gespielten Rolle beinhalten“ (Maturana, 1982, S. 33ff.).

Konkret ergeben sich aus diesen erkenntnistheoretischen Hinweisen grundlegende Anforderungen für die Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung. Die Lebensläufe Erwachsener können durch standardisierte Formen der Ansprache („Belehrung“) kaum wirksam durch Bildung begleitet werden. S. E. ist deshalb darum bemüht, sich in ihrer erwachsenendidaktischen Praxis (Didaktik – Methodik) selbst radikal zu individualisieren. Neben und meist an die Stelle der Lehrfunktion treten Funktionen der Bildungsberatung (Beratung im Kontext lebenslangen Lernens) und der Lernbegleitung. Diese sind – wie die Praxis zahlreicher helfender Berufe – im Kern durch eine paradoxe Anforderung gekennzeichnet, die durch eine spezifische Balance von Nähe und Distanz gekennzeichnet ist: Professionelle Erwachsenenbildende sprechen Lernende wertschätzend und zugewandt an, suchen diese in ihren biografischen Themen (Biografie) und Lernprojekten zu verstehen, während sie gleichzeitig darauf achten müssen, dass sie die nötige Distanz wahren, um den tatsächlichen Entwicklungsstand und Beratungsbedarf in Prozessen der Kompetenzentwicklung nüchtern beobachten und beurteilen zu können – so der Anspruch und das Ziel einer systempädagogischen Professionalisierung der Erwachsenenbildenden. Eine solche Bezogenheit auf die Lernenden unterscheidet sich grundlegend von einer privaten Nähebeziehung; sie unterscheidet sich aber auch gleichzeitig von einer kühlen Expertenhaftigkeit, wie sie bspw. für Richterinnen und Richter, Ingenieurinnen und Ingenieure oder Chirurginnen und Chirurgen bisweilen als „typisch“ angesehen wird. Diese balancierte Gleichzeitigkeit von professioneller Nähe und Distanz wurde in der Erwachsenenbildungsdebatte der 1980er Jahre als die besondere professionelle Aufgabe einer „stellvertretenden Deutung“ diskutiert, womit den Erwachsenen­bil­den­den eine zurückhaltend „ins Spiel gebrachte“ Expertenschaft im Umgang mit Lebensthemen und Kompetenzanliegen anderer abverlangt wurde.

In diesem Sinne verweist das Konzept der stellvertretenden Deutung auf einen nicht-
interventionistischen Umgang mit Lernenden und ihren Suchbewegungen – ein entscheidender Schritt, der Kursleitende, Trainer, Dozierende und Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung (Kursleitende – Trainer – Beratende; Personal) weit weg von jeglicher Lehrerrolle führt. Die Ermöglichung signifikanter Lernprozesse bei Erwachsenen benötigt keine Vormundschaft durch Experten, sondern die Begleitung der Lernenden. Gleichzeitig verlagern sich die Erwartungen, die an diese Experten einer gelingenden Bildung gestellt werden, weg von der Vermittlungs- und Anleitungsfunktion, während Fragen der Begleitung und des Coachings deutlicher in den Vordergrund rücken.

Für die s. E. ist nicht der Fokus auf das Programm und Angebot, sondern ein reflexiver Blick charakteristisch. Dieser fokussiert auf die biografischen Erfahrungen sowie die Identitäts- und Kompetenzbemühungen des Einzelnen. Diese Bemühungen werden als subjektiver Rahmen für das angesehen, was der Lernende aus sich „zu machen“ versteht bzw. für welche Entwicklungsaufgaben er bereit und in der Lage ist. Es ist dabei nicht nur die u. a. von Horst Siebert bereits ausgelotete Verschränkung von Sach- und Subjekt­logik, welche das Verhältnis von Lehren und Lernen in der Erwachsenenbildung bestimmt. Sie muss sich auch von dem überlieferten Bild lösen, Vermittlung (Aneignung – Vermittlung) sei „nach dem Sender-Empfänger-Modell“ (Siebert, 2007, S. 8) möglich. Vielmehr folgen das Lehren und das Lernen unterschiedlichen Handlungslogiken und funktionieren – systemtheoretisch gesprochen – „entkoppelt“: Die Lehrenden lehren auch, ohne das gelernt wird, die Lernenden lernen, ohne dass oder weil gerade nicht gelehrt wird, oder sie lernen etwas anderes als gelehrt wurde – letzteres vielleicht, weil sie sich innerlich auflehnen und auch solidarisieren gegen die zugemuteten Lernanforderungen. Gleichwohl weiß auch die neuere Hirnforschung zu berichten, dass Lehren eine wichtige Voraussetzung für Lernprozesse sein kann, da Lehrende neues Wissen glaubwürdig „verkörpern“ und Zugänge gestalten können.

Systemisch orientiertes Lehren ist weniger Stoffvermittlung als vielmehr Aneignungsbegleitung. Lehrende benötigen deshalb mehr als ihr Fachwissen; sie müssen vielmehr wissen, wie Lernen funktioniert und welche Ängste, Irritationen und Irrwege oder Widerstände mit diesem verbunden sein können. Kurz: Lehrende müssen das Sachliche, um das es geht, von den möglichen Vorerfahrungen der Subjekte her denken und entsprechend aufbereiten können (Erfahrungen – Erfahrungsorientierung). Dies bedeutet: Wirksames Lehren in der Erwachsenenbildung ist Gestaltung von Stoffzugängen vom anderen her; es gibt Raum für dessen biografischen Vorerfahrungen und Prägungen. Die Inhalte bzw. domänenspezifischen Einsichten und Erfahrungen der Lernenden werden so zugänglich gemacht, dass eine wirksame Aneignung und Anwendung durch die Lernenden gelingen können.

Fragt man nach den wesentlichen Elementen des anstehenden Lernkulturwandels (Lernkultur) hin zu einer nachhaltigen independent learning culture, die dem Lehren eine nach wie vor bedeutsame, aber gleichwohl veränderte Funktion zuweist, so lassen sich folgende fünf Prinzipien hervorheben, an denen sich die Praxis einer systemischen E. orientiert (Arnold, 2013):

  1. Selbstlernen: Lernen ist eine Selbstführung, die erlernt werden kann und muss.
  2. Lernarrangement: Wirksame Lehre ist Anregung und Lernbegleitung.
  3. Subjektorientierung: Menschen lernen nur zu ihren eigenen Bedingungen.
  4. Aktivierung: Lernen ist ein Geben, kein Nehmen.
  5. Anwendung: Lernen ist Veränderung durch Selbstveränderung.

Solche Prinzipien widersprechen in vielem der professionellen Praxis, die stets durch das Bestreben gekennzeichnet ist, der eigenen – expertenschaftlichen – These als Lehrende zum Durchbruch zu verhelfen. Auch wissenschaftlich ausgebildete Lehr- und Führungskräfte und die professionellen Gemeinschaften, die über die Einhaltung von Standards wachen, funktionieren systemisch, indem sie das Neue durch die – bewährte – Brille des bislang Gültigen scannen und so dafür Sorge tragen, dass die Beharrungstendenzen wirksam bleiben und auch die Zukunft in vielem so bleibt, wie die Vergangenheit gewesen ist.

Die Debatten über die erwachsenenpädagogische Professionalisierung folgten bis in die heutige Zeit hinein den Konzepten der Vermittlung und Intervention, weniger denen der Begleitung und Beratung. Didaktisches Handeln (didaktische Handlungsebenen) wurde in seinen zwei Varianten Makrodidaktik (Bedarfsklärung, Programmplanung, Zielgruppenentwicklung usw.) und Mikrodidaktik (Unterrichten, Vermitteln usw.) entwickelt und studiert – eine Zwei-Welten-Regelung, die in vielfacher Hinsicht der tatsächlichen Arbeitsteilung zwischen Hauptamtlichen (für die Planung) und Nebenberuflichen (für die Kursgestaltung) in der Erwachsenenbildung entsprach, diese jedoch auch festschrieb. Es spricht viel dafür, dass sich diese Professionslinien im Kontext einer systemischen E. verändern und entgrenzen.

Literatur

Arnold, R. (2013). Systemische Erwachsenenbildung. Die transformierende Kraft des begleiteten Selbstlernens. Baltmannsweiler: Schneider.

Arnold, R. & Siebert, H. (2004). Konstruktivistische Erwachsenenbildung. Von der Deutung zur Konstruktion der Wirklichkeit (4. Aufl.). Baltmannsweiler: Schneider.

Maturana, H. R. & Varela, F. J. (1987). Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. München: Goldmann.

Maturana, H. R. (1982). Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbei­ten zur biologischen Epistemologie. Braunschweig: Vieweg.

Siebert, H. (2007). Konstruktivistisch lehren und lernen (Reihe Grundlagen der Weiterbildung). Hergensweiler: Ziel.

Glasersfeld, E. von (1995). Radical constructivism. A way of knowing and learning (Series Studies in Mathe­matics Education, vol. 6). London (GB): Falmer Press.

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