Sozialer Wandel

Rudolf Tippelt & Thomas Eckert

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-252

Aus sozial- und bildungswissenschaftlicher Sicht umfasst s. W. die Summe quantitativer und qualitativer Veränderungen der Sozial- und Wirtschaftsstruktur von Gesellschaften und ihren Teilbereichen. Im Gegensatz zu den Begriffen „Zivilisierung“, „Europäisierung“, Modernisierung oder „Fortschritt“, aber auch „Industrialisierung“ oder „Demokratisierung“, ist der Begriff s. W. deskriptiv sowie analytisch und beinhaltet keine wertenden und insb. keine teleologischen Grundannahmen.

Historisch betrachtet, wurde s. W. zunächst als evolutionärer Prozess thematisiert, in dem durch eine fortschreitende Arbeitsteilung und die Etablierung neuer Institutionen Gesellschaften an Komplexität gewinnen. Durkheim (1972) schließt an diese These an und analysiert, wie die sich stetig wandelnden sozialen Tatsachen – insb. überindividuelle Strukturen und Ideen, wie Religion, Moral und Normen – die Erziehung und Sozialisation des Einzelnen prägen. S. W. begünstigt die Entwicklung von organischer Solidarität zwischen ihren Mitgliedern, weil in modernen Gesellschaften die Lebensweisen und -verhältnisse der Menschen auf hoher Heterogenität beruhen. Dies wiederum kann aber auch zu sozialen Konflikten führen. S. W. erzwingt geradezu Sozialisation und intendierte Erziehung zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Solidarität. Auch für Weber (1972) ergibt sich durch sozialen W. ein entwicklungshistorischer Verlauf von Gesellschaften, aus dem auch veränderte Anforderungen an die Bildung von Menschen resultieren: Erweckung von Charisma, Kultivierung von Persönlichkeit, spezialisierte Fachschulung.

Mit dem Begriff sowie den verschiedenen Dimensionen von sozialem W. befassen sich v. a. strukturfunktionalistische und systemtheoretische Theorien (Talcott Parsons) sowie konflikttheoretische, evolutionistische und interaktionistische Theorien (Jürgen Habermas). Konkrete Dimensionen sind soziale Strukturen (wie demografischer Wandel, die Schichtungs- und Milieustruktur), räumliche Strukturen (wie Siedlungsformen und Mobilität), soziale Mentalitäten (wie Werte-, Norm- und Rollenveränderungen) oder auch soziales Verhalten (wie Familienformen, Erziehungsstile, Bildungsverhalten). Die Theorien des sozialen Wandels stellen nicht eine einzige erklärende Variable (z. B. Wirtschaftswachstum, technologischer Wandel, kulturelle Veränderungen) in den Mittelpunkt, sondern streben eine mehrdimensionale Erklärung von Veränderungen an. Zwar haben die meisten Theorien des sozialen Wandels ein Vorverständnis der wesentlichen Richtung der künftigen Entwicklung, allerdings geht es nicht um die Suche nach evolutionären Universalien, die in allen Entwicklungsprozessen in bestimmter zeitlicher Abfolge und struktureller Ordnung aufzufinden sind und letztlich für unvermeidbar oder gar für normativ wünschenswert erklärt werden. Typisch dagegen ist, dass in komplexen Gesellschaften in den verschiedenen Teilbereichen ein unterschiedliches Veränderungstempo festzustellen ist (z. B. im Beschäftigungs- und im Weiterbildungssystem), sodass beim sozialen W. Ungleichzeitigkeit und Spannungen auftreten.

Die theoretische und empirische Forschung zum sozialen W. lässt in den letzten Jahrzehnten bestimmte thematische Schwerpunkte und Konjunkturen erkennen: In den 1950er und 1960er Jahren hat Talcott Parsons den sozialen W. in Verbindung mit seinem rollentheoretischen Ansatz bearbeitet. In Parsons strukturfunktionalistischem Ansatz agiert das Individuum in einer turbulenten Umwelt auf Basis gesellschaftlich normierter und individuell internalisierter Rollenanforderungen und trägt so zur Aufrechterhaltung sozialer Systeme bei. In den 1970er Jahren wurde von Vertretern der Kritischen Theorie bemängelt, dass dieser Ansatz lediglich die Reproduktion bestehender sozialer Ordnungen im Blick habe. In der pädagogischen Rezeption entwickelte sich die Funktionsbeschreibung pädagogischer Institutionen (Qualifikation, Allokation, Legitimation und Enkulturation) weiter (Tippelt, 1990). In den 1980er Jahren wurde die Verlagerung von Arbeitsplätzen in den tertiären Dienstleistungssektor analysiert und die Bedeutung von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital hervorgehoben (Pierre Bourdieu). Gleichzeitig wurde insb. im deutschsprachigen Raum der Bedeutungsverlust traditioneller sozialer Strukturen, Institutionen und Orientierungsmuster – wie Klassen, Familie, Ehe oder Geschlechterrollen – im Zuge einer umfassenden Individualisierung herausgearbeitet. Pierre Bourdieus lebensstilbezogener Ansatz und verwandte, in der Erwachsenenbildung genutzte Milieukonzepte (Milieuforschung) können auch als Gegenentwurf zur Individualisierungsthese verstanden werden, da nicht von einer Erosion sozialer Zusammenhänge, sondern von neuen Ebenen sozialer Gruppenbildung ausgegangen wird. Die beim sozialen W. stets bedeutsame Thematik der Beschreibung und Erklärung sozialer Ungleichheit, also der ungleichen Verteilung von als wertvoll erachteten Gütern (Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung), werden heute auch aus geschlechtsspezifischer (Gender in der Erwachsenenbildung) und migrationsspezifischer Perspektive (Migration) empirisch analysiert. Soziale Ungleichheit wird hierbei als illegitime Benachteiligung durch eine asymmetrische Chancenverteilung kritisiert.

Vor dem Hintergrund der Theoreme der Differenzierung, Expansion, Interdependenz, Mobilität und Partizipation werden in der Erwachsenenbildungsforschung verschiedene Megatrends des sozialen Wandels bearbeitet (Tippelt, 2018): demografischer Wandel und Alternsprozesse, Klimawandel (Nachhaltigkeit) und Wertewandel, Individualisierung und Singularisierung, Digitalisierung und beruflicher Strukturwandel. Bildung im Allgemeinen und Erwachsenenbildung im Besonderen spielen heute im Kontext des sozialen Wandels eine bedeutende Rolle, weil Bildung und lebenslanges Lernen (lifelong learning) generative Lebenschancen beeinflussen und als wichtige Indikatoren zur Positionierung im sozialen Raum wahrgenommen werden.

Literatur

Durkheim, E. (1972). Erziehung und Soziologie. Düsseldorf: Schwann.

Tippelt, R. (1990). Bildung und sozialer Wandel. Eine Untersuchung von Modernisierungsprozessen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950 (zugl. Habil.). Weinheim: Deutscher Studien Verlag.

Tippelt, R. (2018). Sozialer Wandel und Erwachsenenbildung seit den 1980er Jahren. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., Bd. 1, S. 89–106). Wiesbaden: Springer VS.

Weber, M. (1972). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr.

Sokratische Methode
Sozialformen