Sokratische Methode

Klaus Wiegerling

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-251

Die S. M. ist kein originäres, theoretisch begründetes Konzept, sondern eine historische Zuschreibung. Das wesentlich aus den platonischen Dialogen vermittelte Bild des Lehrers Sokrates wird dabei zum Anlass genommen, mit ihm eine Lehr- bzw. Lernmethode (Methoden) zu verbinden, die sich von der traditionellen Katechetik, die sich v. a. durch Anweisung und mechanisches Memorieren auszeichnet, unterscheidet. Nach Platons Darstellung nannte Sokrates seine Vorgehensweise „Hebammenkunst“ (Mäeutik), bei der es darum geht, „Geburtshilfe“ für „schwangere Seelen“ zu leisten, die bereit sind, eine Einsicht zu „gebären“. M. a. W. werden Lernenden Erkenntnisse entlockt, indem sie durch geeignete Fragen den tatsächlichen Sachverhalt selbst entdecken. Einen Höhepunkt erlebte die S. M. als Ausdruck aufklärerischer Bildungsideen (Aufklärung) insb. im 18. Jh. bei Autoren wie Gotthold E. Lessing oder Christoph M. Wieland.

Die unter dem Titel der S. M. entwickelten Konzepte weisen insgesamt nur eine Familienähnlichkeit auf. Basal sind dabei folgende Momente:

  • Die Lehr-Lern-Situation findet dialogisch statt.
  • Es wird nach einer den Untersuchungsgegenstand bestimmenden Definition gesucht.
  • Bei der Suche spielt die Widerlegung unzureichender Argumente eine zentrale Rolle („sokratischer Elenchos“), wobei es darauf ankommt, dass die Argumentierenden durch geschicktes Fragen des Lehrenden die Widersprüche ihrer Argumentation selbst erkennen.
  • Der Erkenntnisweg geht vom Bekannten zum Unbekannten und zielt auf einen Konsens, weswegen alle Ergebnisse einer gemeinsamen Überprüfung unterzogen werden.

Die S. M. basiert auf folgenden Voraussetzungen:

  • Jeder Untersuchungsgegenstand kann in einem dialogischen Verfahren durch Frage und Antwort zu einer präzisen Definition geführt werden, die allgemeine Zustimmung findet.
  • Der lernende Dialogpartner verfügt über Erfahrungen und Vorwissen, die als Ausgangspunkt der Untersuchung genommen werden.
  • Er ist als vernunftbegabtes Wesen imstande, aus seinen Erfahrungen in rationalen Schritten zum Allgemeinen zu gelangen.
  • Er ist fähig, in kritisch-unterscheidender Weise die gefundene Definition zu überprüfen und ggf. zu revidieren.

Große Bedeutung kommt der S. M. in der verhaltenstherapeutischen Gesprächstherapie zu, in der der Patient eigene Denkwidersprüche durch gezieltes Nachfragen des Therapeuten als Ursache psychischer Störungen erkennen soll.

Im 20. Jh. entwickelten v. a. der Kantianer Leonard Nelson (1882–1927) und sein Schüler Gustav Heckmann (1898–1996) das Konzept des Sokratischen Gesprächs. Dieses unterscheidet sich vom klassischen Verständnis der S. M. dahingehend, dass es als Gruppenlernprozess verstanden wird, in dem der Lehrende zum neutralen, seinen eigenen Standpunkt ausklammernden Moderator wird, der durch gezieltes Fragen den Gruppenlernprozess aufrechterhält. Theoretische und praktische Aspekte sollen dabei gleichermaßen berücksichtigt werden.

Insb. im deutschsprachigen Raum erfuhr das Dialogische Prinzip des jüdischen Religionsgelehrten Martin Buber zeitweise eine starke Rezeption (jüdische Erwachsenenbildung). Er entwickelte es als anthropologisches Grundprinzip (Anthropologie) unter starkem Einfluss von Søren A. Kierkegaard. Im Zentrum steht dabei v. a. auch die Identitätsbildung (Identität) in Relation und Abgrenzung zum Du. Besonderen Einfluss hatte das Dialogische Prinzip auf Urs Rufs und Peter Gallins Konzept des Dialogischen Lernens sowie auf sozialkonstruktivistische Lerntheorien (Lew S. Wygotzki).

In den der Reformpädagogik der 1970er Jahre fand die S. M. großen Anklang. Eine theoretische Rechtfertigung erfuhr sie insb. auch über die Frankfurter Diskurs- und Konsensphilosophie (Jürgen Habermas, Karl-O. Apel). In der Erwachsenen- und Weiterbildung soll die Anwendung zu einer höherstufigen Symbolorganisation und einem besseren Welt- und Selbstverständnis führen, wobei der kulturellen und sozialen Disposition der Gegenstandsfokussierung eine zentrale Rolle zukommt.

Kritische Einwände gegen die S. M. wurden v. a. im Poststrukturalismus (Barthes, 1974) formuliert. Er versteht diese Methode als Ausdruck eines Logozentrismus, der den jeweils anderen in Widersprüche und Zwangslagen zu treiben versucht und der präsentischen Rede einen wahrheitsaufweisenden Wert gibt, der ihr nicht zukommt.

Literatur

Barthes, R. (1974). Die Lust am Text. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Birnbacher, D. & Krohn, D. (Hrsg.). (2002). Das sokratische Gespräch. Stuttgart: Reclam.

Krohn, D., Neißer, B. & Walter, N. (Hrsg.). (1999). Das sokratische Gespräch. Möglichkeiten in philosophischer und pädagogischer Praxis. Frankfurt a. M.: dipa.

Nelson, L. (1975 [1922]). Die sokratische Methode. In G. Henry-Hermann (Hrsg.), Leonard Nelson. Vom Selbstvertrauen zur Vernunft. Schriften zur kritischen Philosophie und ihrer Ethik (Reihe Philosophische Bibliothek, Bd. 288, S. 191–238). Hamburg: Felix Meiner.

Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen
Sozialer Wandel