Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen

Rolf Arnold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-250

Der Begriff der So. hat seinen Ursprung in der Chaosforschung und den Erkenntnissen des systemischen Denkens, dass Systeme aus sich selbst heraus Formen der Ordnungsbildung entstehen lassen. Diese emergieren, d. h. sie entstehen spontan und bleiben einer erwartenden Beobachtung oft verschlossen. Diese Prozesse erweisen sich nicht nur als unübersichtlich, sondern auch als unübersehbar und unberechenbar. Unsere Beobachtungen vermögen kaum zu erkennen, was sich da ereignet und in Erscheinung treten will, da wir durch Erfahrungen, Konzepte oder Theorien auf das Geschehen blicken und auf diese Weise bloß zu erkennen vermögen, was wir bereits kennen oder wiederzuerkennen meinen. Unsere Beobachtungen vermitteln uns deshalb häufig das Bild eines regellosen Durcheinanders, da wir die Komplexität der miteinander interagierenden und rückkoppelnd aufeinander verwiesenen Teile des Ganzen nicht zu erfassen vermögen.

Bereits für Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela ist die So. und die Selbsterzeugung der Lebewesen ihre spezifische Weise, sich gegenüber ihrer Umwelt zu definieren und anderen Bedingungen anzupassen (Maturana & Varela, 1987). Und es ist auch für diese Vertreter einer Biologie der Erkenntnis letztlich der Beobachter, dessen Perspektive darüber entscheidet, welche Ordnungsbildung sie zu erkennen vermögen und wie sie auf diese reagieren. In diesem Sinne führte das Konzept der So. insb. in den Veränderungstheorien (z. B. Management, Didaktik) zu Versuchen, verstärkt auf die im Inneren von Organisationen, Gruppen oder Einzelnen bereits wirkenden Energien und Dynamiken zu achten und die in diesen zum Ausdruck drängenden Potenziale zu unterstützen. Bildung und Erziehung sowie Anleitung, Begleitung und Führung werden dabei systemisch als ein von den zukünftigen Möglichkeiten her offengehaltener und gestalteter Prozess eines „leading from the future as it emerges“ (Scharmer, 2009) in neuer Weise begründet. Damit folgt der Blick auf die So. einem Pfad, den bereits die Subjektorientierung der Erwachsenenbildung eingeschlagen hat: Dem lernenden und sich entfaltenden Individuum wird eine prinzipielle Offenheit und Plastizität seiner Ich-Entwicklung attestiert, deren Ziele und Ansprüche es selbst bestimmen kann. So kann es seiner eigenen Logik folgen.

In der Pädagogik führen das Konzept der So. sowie die Versuche, die So. pädagogischer Wirkungszusammenhänge zu verstehen und systemisch zu deuten, immer noch ein Randdasein. Vor diesem Hintergrund mutet der frühe Versuch von Dieter Lenzen, die bildungstheoretische Tragfähigkeit der Konzepte Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz (SAE) gründlich auszuloten, wegweisend an, zumal ihn seine Analyse bereits 1997 zu der Einschätzung führte, „daß beide Begrifflichkeiten [gemeint: die bildungstheoretische und die SAE-Begrifflichkeit] zwar hinsichtlich ihrer paradoxalen Struktur äquivalent sind, daß aber die SAE-Konzeption u. a. eine höhere Anschlußfähigkeit für eine Reflexionstheorie der Humanontogenese aufweist“ (Lenzen, 1997, S. 949). Solche offenen Annäherungen an die Konzepte einer systemischen Pädagogik (systemische Erwachsenenbildung) gehen mit einer Kritik des ungenauen Bildungsbegriffs einher, der zudem oft der impliziten pädagogischen Illusion verbunden bleibt, dass Bildung eine Art „Besitzübertragung“ sei: „Das Individuum selegiert“ – so bereits Lenzen (ebd., S. 952); „Indoktrination besteht weniger darin, was gesagt oder gelehrt wird, als vielmehr in dem, was das Individuum nicht angeboten bekommt.“

Die Konzeption der So. stellt jegliche Machbarkeits- und Gestaltungsanmaßungen, denen sich das Individuum mit dem Eigensinn seiner lernenden Suchbewegung und seiner eigenen Selbstlernkompetenz zu entziehen vermag, grundlegend infrage. Die Ss. und das Sl. rücken stärker in den Fokus der Erforschung und Gestaltung des Lernens Erwachsener. Es mehren sich lerntheoretische Positionen, die davon ausgehen, dass kognitive (und emotionale) Systeme nicht eine objektive Umwelt erkennen und aneignen können. Ihre Erklärungen und Beurteilungen dessen, was für sie der Fall ist, erzeugen sie vielmehr aufgrund der physiologisch-neurologischen Beschaffenheit ihrer Wahrnehmungsorgane sowie aufgrund ihrer biografisch erprobten und bewährten Deutungsmuster selbstorganisiert. Menschen lernen in der Form einer Suchbewegung. Diese ist stets Ausdruck einer eigenen Begründung bzw. eines eigenen Lernprojekts. Wie mit einem Suchscheinwerfer beleuchten sie dabei die Aspekte des Lerngegenstands, die für sie bedeutsam sind und an denen sie mit eigenem Vorwissen (Gedächtnis; Wissen) und aus eigener Lebenspraxis heraus anschließen können. Sie vergleichen die Ergebnisse dieser lernenden Suchbewegung zwar im Diskurs mit anderen und entwickeln auch im sozialen Kontakt geteilte Orientierungen und Sichtweisen, sind aber zugleich oft darum bemüht, in den Grundfesten ihrer Identität so bleiben zu können, wie sie sind. Diese Gleichzeitigkeit von suchender Offenheit und relativer Festlegung erklärt auch, dass (1) Menschen nicht lernen, obgleich Ihnen ein Sachverhalt liebevoll und aufwendig didaktisiert nahegebracht wird, und (2) dass sie lernen, obgleich gar nicht gelehrt wurde, oder (3) dass sie etwas anderes lernen als gelehrt wurde.

Aus dieser inneren Gleichzeitigkeit heraus sind Erwachsene darum bemüht, neue und gangbare („viable“) Wege erzeugen. Auch zahlreiche Hirnforscher (z. B. Gerhard Roth) meinen diese Ambivalenz des Lernens, wenn sie darauf hinweisen, dass Menschen in Lernprozessen überwiegend mit sich selbst beschäftigt sind, oder wenn sie die Frage eher verneinend als bejahend erörtern, ob es möglich ist, sich selbst oder andere erfolgreich zu verändern. Dabei werden hohe Werte der Selbstbezogenheit gehandelt: Zu über 80 Prozent greifen Gehirne – so einzelne Befunde – bei der Konstruktion viabler Wege auf Bestandteile zurück, über die sie bereits verfügen.

Die erwachsenendidaktische Antwort auf die So. und die relative Geschlossenheit der Aneignungsbewegungen lernender Subjekte ist die didaktische Kontextsteuerung: Wenn wir nicht sicher voraussagen können, mit welchen Umgebungsstrukturen ein Subjekt sich in Resonanz zu begeben vermag und mit welchen nicht, dann bleibt nur der Weg einer möglichst vielfältigen Unterstützung der Ss. und des Selbstlernens der Lernenden. Erwachsenenbildung sollte deshalb darum bemüht sein, vielfältige Formen der Inhaltserschließung, Aufgabenbewältigung und Anwendung zu ermöglichen. Diese erwachsenendidaktische Leitlinie löst sich weitgehend von der Lehr-Steuerung und wendet sich der So. der subjektiven Aneignung zu (Aneignung – Vermittlung). Letztlich können Weiterbildungsanbieter sowie Lehrende und Kursleitende in der Erwachsenenbildung kaum sicher wissen, über welches innere Anschlussmaterial der Lernende verfügt, um einen Lerngegenstand from inside out zu konstruieren (Konstruktivismus), in seiner kognitiven und emotionalen Struktur wirksam zu verankern und zur Kompetenzbildung zu nutzen. Ebenso wenig können sie sicher wissen, welche Formen des Zugangs Lernende bereits zu nutzen in der Lage sind, über welche Strategien und Techniken der Anverwandlung und Verfestigung (Lernstrategien – Arbeitstechniken) sie bereits verfügen und von welchen lernbiografischen Stärkungs- oder Schwächungserfahrungen (Biografie) die So. ihrer Suchbewegungen geprägt ist.

Dieser Blick auf die So. des Erwachsenenlernens war implizit auch bereits früheren Ansätzen der Erwachsenenbildung eigen, auch wenn diese die sich erst seit den 1990er Jahren verbreitende Theorie der So. noch nicht aufgreifen konnten. So beschrieb z. B. Enno Schmitz das Lernen Erwachsener als „lebensweltlichen Erkenntnisprozess“ (Schmitz, 1984). Er nahm einen weiten Lernbegriff vorweg, der sich nicht bloß auf die kognitive Aneignung neuen Wissens, sondern auf die Entwicklung weiterführender Interpretationen sowie die selbstorganisierte Gestaltung neuartiger Anforderungen bezog – Lesarten, welche erst gut 20 Jahre später mit der Kompetenzdebatte (Kompetenz) wieder aufgegriffen wurden. Günther Dohmen (1998) analysierte in verschiedenen Beiträgen das selbstorganisierte informelle Lernen als die Grundform des Lernens Erwachsener, begründete die „Notwendigkeit seiner Förderung“ und erweiterte den erwachsenendidaktischen Diskurs im Hinblick auf die Nutzung von Formen einer angeleiteten und begleiteten Selbstbildung.

Diese Ansätze gingen jedoch nicht nur mit einer erweiterten Betrachtung des Lernens Erwachsener in seinen lebensweltlichen Bezügen (Lebenswelt) einher; sie leiteten auch eine Differenzierung des Blicks nach innen ein und führten damit die Diskussion näher an den Kern der Selbstorganisationstheorie heran. Die lernenden Akteure wurden selbst als systemische Einheiten fokussiert, in denen wiederum unterschiedliche Systeme (z. B. Kognition oder Emotion) mehr oder weniger verkoppelt miteinander interagieren. So „lebt“ das kognitive System von den Strukturen, die es bereits herausgebildet hat, und es eignet sich Neues bloß zu den jeweils eigenen Bedingungen an, indem es vorhandene Muster auch an Neuem erprobt und sich dieses assimiliert (Assimilation), oder indem es bislang erfolgreiche Muster selbst anpasst oder gar aufgibt, um neu denken, verstehen und handeln zu können (Akkomodation). Diese beiden Mechanismen wurden bereits von Jean Piaget (1896–1980) grundlegend erforscht (Piaget, 1981). Gleichzeitig thematisierte Piaget, ohne dass er die Reichweite dieser Einsicht vielleicht selbst schon abgesehen hat, die Lernform der beschleunigten Moderne: die Akkomodation. Wo Lernen als lebensweltliche Gegebenheit in den Blick rückt und Bildung auch mehr und mehr zur lebenslaufbezogenen Selbstveränderung wird, ist das Lernen durch Musterbrechung die eigentliche Form eines lebenslangen Lernens (lifelong learning). Ihr zentraler Mechanismus ist die – angeleitete – Selbstreflexion.

Solche oder ähnliche Selbstreflexionen sind Aktivitäten einer beobachtenden Person, durch die diese sich darum bemüht, nicht nur die systemischen Funktionen zu verstehen, denen sie sich ausgesetzt fühlt, sondern auch diejenigen, die von ihr selbst ausgehen. Durch Selbstreflexion vermag der beobachtende Mensch zu erkennen, dass er nicht nur intentional, d. h. in bewusster Zielverfolgung, handelt, sondern auch funktional. Sein Denken, Fühlen und Handeln erfüllen gleichzeitig auch Funktionen, deren er sich nicht bewusst ist; er ist nur begrenzt „Herr im eigenen Haus“. Ebenso wenig vermag er die Wirkungen, welche sein Handeln in anderen Systemen auslöst, zu bestimmen. Denn diese reagieren auch funktional, d. h. in dem Bemühen, den Funktionen „treu“ zu bleiben, die sie bislang erfüllt haben.

Für die Erwachsenenpädagogik ist die didaktisch folgenreiche Einsicht grundlegend, dass Lernen nicht länger vornehmlich als Ergebnis von Lehren verstanden werden kann. Auch mit der These, dass Erwachsene nicht verstehen, wohl aber beobachten können, wie diese ihre So. handhaben, markiert grundlegende Anforderungen an die erwachsenenpädagogische Professionalität. Naheliegend scheint eine noch weitreichendere Entreglementierung der Lernprozesse in der Erwachsenenbildung (Ermöglichungs­didaktik) sowie eine gezielte Stärkung der Selbstlernkompetenzen der Lernenden zu sein, um das, was ohnehin wirkt, zu ermöglichen und zu unterstützen. Der Slogan „Entlehrt Euch!“ (Arnold, 2017) ist dafür bloß eine Wiederauflage der in der Erwachsenenbildung traditionsreichen Konzepte eines selbstgesteuerten Lernens (z. B. von Malcom Knowles).

Literatur

Arnold, R. (2018). Ach, die Fakten! Wider den Aufstand des schwachen Denkens. Heidelberg: Carl-Auer.

Arnold, R. (2017). Entlehrt Euch! Ausbruch aus dem Vollständigkeitswahn. Bern (CH): hep.

Baecker, D. (2013). Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie. Berlin: Suhrkamp.

Dohmen, G. (1998). Das „selbstgesteuerte Lernen“ und die Notwendigkeit seiner Förderung. In K. Derichs-Kunstmann, P. Faulstich, J. Wittpoth & R. Tippelt (Hrsg.), Selbstorganisiertes Lernen als Problem der Erwachsenenbildung. Dokumentation der Jahrestagung 1997 der Kommission Erwachsenenbildung der DGfE (Beiheft zum Report. Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung, S. 64–69). Frankfurt a. M.: DIE.

Lenzen, D. (1997). Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab? Niklas Luhmann zum 70. Geburtstag. Zeitschrift für Pädagogik, 43(6), 949–968.

Maturana, H. R. & Varela, F. J. (1987). Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens (3. Aufl.). Bern (CH): Scherz.

Piaget, J. (1981). Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Weinheim: Beltz.

Scharmer, C. O. (2009). Theory U. Leading from the future as it emerges. The social technology of pres­enc­ing. San Francisco (US): Berrett-Koehler.

Schmitz, E. (1984). Erwachsenenbildung als lebensweltbezogener Erkenntnisprozeß. In E. Schmitz & H. Tietgens (Hrsg.), Erwachsenenbildung (Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd. 11, S. 95–123). Stuttgart: Klett-Cotta.

Selbstlernkompetenzen
Sokratische Methode