Selbstlernkompetenzen

Kerstin Bestvater & Henning Pätzold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-249

Im Begriff S. werden drei Perspektiven auf das Lernen Erwachsener angesprochen, die auf unterschiedliche, je umfangreiche Traditionen zurückblicken können. Kompetenz ist als Gegenstand der Pädagogik gegen Ende des vorigen Jahrhunderts aufgegriffen worden und betont die Integration des Lernens und seiner Ergebnisse in umfassende Handlungsvollzüge. Fähigkeit, Bereitschaft und Berechtigung sind dabei die mindestens notwendigen Merkmale für wirksame Lernprozesse. Lernen ist als pädagogischer Fachbegriff zwar älter, jedoch wurde auch hier erst in der jüngeren Vergangenheit (wieder) eine spezifisch pädagogische Sichtweise eingenommen, die den Begriff aus einer engen, verhaltenswissenschaftlichen Lesart herausholt und ihn stärker in den Kontext von Veränderung, Person und Lebenswelt stellt (Grotlüschen & Pätzold, 2020). Im Zusammenhang mit Lernen ist schließlich auch das Selbst wieder stärker in den Blick geraten (Selbsterfahrung – Bewusstseinsbildung; Selbstorganisation – Selbststeuerung –
Selbstlernen
), obwohl der Begriff „Selbst“ insb. für geisteswissenschaftliche, pädagogische Konzepte immer anschlussfähig gewesen ist.

Die Grundidee, dass Menschen ganzheitlich und selbstreflektiert in Auseinandersetzung mit sich und der Wirklichkeit lernen und handeln, geht bis in die Antike zurück und findet sich z. B. bei Platon und Aristoteles. Auch im ausgehenden Mittelalter und später im Neuhumanismus des 18./19. Jh. findet sich die Idee der selbstbestimmten Persönlichkeitsentwicklung in Bezug auf Lernen (Persönlichkeitsbildung). In Deutschland wird sie – auch im Kontext der Romantik – z. B. bei Johann G. Herder, Wilhelm von Humboldt, Gotthold E. Lessing und Friedrich Schleiermacher ausgearbeitet (Greif & Kurtz, 1996). Für die verschiedenen reformpädagogischen Strömungen seit dem späten 19. Jh. erwies sie sich wiederum als anschlussfähig. So fand das Prinzip der Selbsttätigkeit bspw. mit Maria Montessori und ihrem Leitspruch „Hilf mir, es selbst zu tun“ Resonanz in der pädagogischen Debatte. Mit dem Begriff self-directed learning wurde die Rolle des Selbst beim Lernen dann in den 1970er und 1980er Jahren, ausgehend von der amerikanischen Diskussion, in der Erwachsenenbildung und weit darüber hinaus thematisiert (Reischmann, 1997). Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wird Lernen als ein Vorgang verstanden, der in hohem Maße durch die Lernenden beeinflusst und gesteuert wird, gleichzeitig aber in einen umfassenden Kontext eingebettet ist, der sowohl den Lernvorgang als auch den Umgang mit dessen Ergebnissen und damit nicht zuletzt die Planung weiteren Lernens stark beeinflusst. Vor diesem Hintergrund wurde, insb. im Kontext der Diskussion um selbstgesteuertes Lernen, die Frage aufgeworfen, welche Kompetenzen beim Lernen erforderlich und wirksam sind und wie diese zum Gegenstand von Lernen werden
können.

In einem ersten Zugriff, der auch an das bei Wilhelm von Humboldt angelegte Konzept vom Lernen des Lernens anknüpft, geht es darum, den eigenen Lernprozess zu gestalten. Dabei wird auf die analytischen Schritte zurückgegriffen, die in der Diskussion um selbstgesteuertes Lernen herausgearbeitet worden sind. Nach Arnold und Gómez Tutor (2007, S. 124) ist selbstgesteuertes Lernen, basierend auf der Arbeit von Malcolm Knowles, ein „aktiver Aneignungsprozess, bei dem das Individuum über sein Lernen entscheidet, indem es die Möglichkeit hat,

  • die eigenen Lernbedürfnisse bzw. seinen Lernbedarf, seine Interessen und Vorstellungen zu bestimmen und zu strukturieren,
  • die notwendigen menschlichen und materiellen Ressourcen (inklusive professionellen Lernangeboten oder Lernhilfen) hinzuzuziehen,
  • seine Lernziele, seine inhaltlichen Schwerpunkte, Lernwege, -tempo und -ort weitestgehend selbst festzulegen und zu organisieren,
  • geeignete Methoden auszuwählen und einzusetzen und
  • den Lernprozess auf seinen Erfolg sowie die Lernergebnisse auf ihren Transfergehalt hin zu bewerten“.

Ausgehend von dieser Definition von selbstgesteuertem Lernen wurde in einer empirischen Studie der Frage nachgegangen, inwieweit sich diese Kompetenzen in ein erweitertes Handlungskompetenzmodell aufschlüsseln lassen. Als Ergebnis der Studie wurde festgehalten, dass in Selbstlernprozessen sechs Kompetenzbereiche besonders gefordert werden: (1) Fachkompetenz als Gesamtheit des Wissens bezüglich eines Themas und der Umgang mit diesen Kenntnissen beinhaltet insb. das anschlussfähige Vorwissen als relevante Größe für Selbstlernprozesse. Die Fähigkeit zu selbstverantwortlichem Handeln als (2) personale Kompetenz spielt v. a. im Hinblick auf die Leistungsmotivation, die intrinsische Motivation und die Anstrengungsbereitschaft bzw. das Durchhaltevermögen für Selbstlernprozesse eine wesentliche Rolle (Lernmotivation – Lerninteresse; Weiterbildungsmotivation). Selbstgesteuertes Lernen bedeutet aber nicht, allein und ohne Hilfe völlig autonom zu lernen. Das Individuum kann entscheiden, sich einer Lerngruppe anzuschließen oder eine Lernhilfe bzw. Lernberatung (Beratung im Kontext lebenslangen Lernens) in Anspruch zu nehmen. Deshalb sind (3) soziale Kompetenzen und hier besonders die Kooperations-, Kommunikations-, Team- und Konfliktfähigkeit wesentlicher Bestandteil von Selbstlernprozessen. Zur (4) Methodenkompetenz zählen die Fähigkeit zur Metakognition, die den eigenen Lernvorgang durch Selbstbeobachtung reflexiv zugänglich macht, die Fähigkeit zur Strukturierung, das persönliche Zeitmanagement, die Gestaltung der Lernumgebung sowie die Wahl der Überprüfungsstrategien (Lernstrategien – Arbeitstechniken). In engem Zusammenhang dazu steht die (5) emotionale Kompetenz (→ Emotion – emotionale Kompetenz). Diese beinhaltet ein positives Selbstwertgefühl, den Umgang mit Misserfolg, die Selbstwirksamkeit und den eigenverantwortlichen Umgang mit dem Lernprozess und dem dazugehörigen sozialen Gefüge. Schließlich wird (6) kommunikative Kompetenz als Fähigkeit genannt, sprachliche Ausdrucks- und Dialogfähigkeit in Lernprozessen produktiv einzusetzen (Arnold, Gómez Tutor & Kammerer, 2002).

S. bestehen in dieser Lesart darin, die eigenen Spielräume bei der Gestaltung jeden einzelnen dieser Schritte kompetent zu nutzen. Die Konsequenzen dieser Sichtweise betreffen v. a. das Lehren. Traditionelle didaktische Modelle lassen den Lernenden bspw. bei der Identifikation der eigenen Lernbedürfnisse wenig Entscheidungsmöglichkeiten; die entsprechenden Kompetenzen werden, so vorhanden, nicht abgefordert und liegen brach. Lernsettings, die hier mehr Möglichkeiten bieten, erfordern eine veränderte Didaktik, die z. B. unter dem Paradigmenwechsel vom Lehrenden hin zum Lernbegleitenden, -beratenden und -arrangierenden diskutiert wird. Die damit verbundene Verschiebung von Verantwortung ruft aber auch Kritik hervor, weil sie erlaubt, nachträglich die Gründe für etwaiges Scheitern von Lernprozessen bei den Lernenden zu verorten, ohne dass immer sichergestellt ist, dass diese überhaupt über die Gestaltungsmöglichkeiten im obigen Sinne verfügen können. Hier erweist sich das Kompetenzkonzept wiederum als besonders tragfähig, da es betont, dass Fähigkeiten nur dann wirksam werden können, wenn sie mit entsprechenden Berechtigungen in geeigneten Situationen einhergehen.

Auch S. entfalten sich also in einem Komplex von personalen und situativen Faktoren, und entsprechend können S. nicht unabhängig von den sozialen und materialen Kontextbedingungen betrachtet werden. Gerade die Diskussion um die „kompetenzorientierte Wende“ (Arnold, 1997) in der Erwachsenenbildung und der hier betonte Übergang von der Wissensvermittlung und Qualifizierung (Qualifikation) hin zur Kompetenzent­wicklung hat diesen Aspekt aufgegriffen. So kann die Fähigkeit, die eigenen Lernbedürfnisse zurückzustellen und sich einem fremdgesteuerten Arrangement zu unterwerfen, eine notwendige Kompetenz sein, wenn es darum geht, die Partizipation an Lernangeboten in autoritären Verhältnissen zu ermöglichen (Lernkultur). Auch die metakognitiven Kompetenzen im Kontext des Selbstlernens sind Wandlungen unterworfen. Bspw. sinkt die Bedeutung der Fähigkeit, grundlegende Informationen zu einem Sachverhalt zu recherchieren, während gleichzeitig die Bedeutung der Fähigkeit, Wichtiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden, erheblich zugenommen hat (digitales Lernen; Medien in Lehr-Lern-Prozessen). Die Bedingungen der sog. VUCA-Welt (engl. Akronym für volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) erhöhen generell die Anforderungen an die S., da sie auch die Verlässlichkeit traditioneller Aus- und Weiterbildungskontexte, Wissensbestände und Lehr-Lern-Methoden untergraben.

Eine spezielle Rolle im Kontext von S. spielen neue Lerntechnologien (Dietze et al., 2017). Auch sie erhöhen tendenziell die Verfügbarkeit und Vielfalt von Lernangeboten; gleichzeitig wächst mit ihnen die Anforderung, einerseits ein geeignetes Angebot auszuwählen und andererseits bei oft gering formalisierten und stark individualisierten Settings die Lernmotivation aufrecht zu erhalten. Für die Auswahl bedarf es somit der Fähigkeit, die Eignung eines Angebots abzuwägen, sowohl in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten, das eigene Vorwissen usw. als auch hinsichtlich der fachlichen und didaktischen Qualität. Die Intransparenz des emergierenden internationalen Weiterbildungsmarkts und die Bedingungen einer „Aufmerksamkeitsökonomie“ lassen ahnen, wie herausfordernd diese Aufgabe ist und dass didaktische Auswahlkompetenz, verstanden als ein Aspekt von S., folglich selbst zum Lern- und Lehrgegenstand werden muss.

Literatur

Arnold, R. (1997). Von der Weiterbildung zur Kompetenzentwicklung. In Arbeitsgemeinschaft QUEM. (Hrsg.), Kompetenzentwicklung ʼ97. Berufliche Weiterbildung in der Transformation – Fakten und ­Visionen (S. 253–299). Münster: Waxmann.

Arnold, R. & Gómez Tutor, C. (2007). Grundlinien einer Ermöglichungsdidaktik. Bildung ermöglichen – Vielfalt gestalten. Augsburg: Ziel.

Arnold, R., Gómez Tutor, C. & Kammerer, J. (2002). Selbstgesteuertes Lernen als Perspektive der beruflichen Bildung. BWP-Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 31(4), 32–36.

Dietze, N., Kuhn, A. & Haberer, M. (2017). Förderung der Selbstlernkompetenz in physischen und virtuellen Lernumgebungen. Zur Entwicklung und Umsetzung eines „sinnstiftenden“ Konzepts. In R. Arnold, M. Lermen & M. Haberer (Hrsg.), Selbstlernangebote und Studienunterstützung (Fachtagung Selbstgesteuert, kompetenzorientiert und offen?!, Bd. 3, S. 163–184). Baltmannsweiler: Schneider.

Grotlüschen, A. & Pätzold, H. (٢٠٢٠). Lerntheorien in der Erwachsenen- und Weiterbildung (Lehrbuch­reihe Erwachsenen- und Weiterbildung. Befunde – Diskurse – Transfer, Bd. 4, utb 5622). Bielefeld: wbv ­Publikation.

Greif, S. & Kurtz, H.-J. (1996). Handbuch selbstorganisiertes Lernen. Göttingen: Verlag für Angewandte Psychologie.

Reischmann, J. (1997). Self-directed Learning – die amerikanische Diskussion. Report. Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung, 20(39), 125–137.

Selbsterfahrung – Bewusstseinsbildung
Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen