Reeducation

Martha Friedenthal-Haase

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-243

R. ist in erster Linie ein historischer, erst in zweiter Linie ein pädagogisch-systematischer Begriff. Historisch bezeichnet R. Bestrebungen der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die politische Ideologie der ehemaligen Kriegsgegner und Aggressoren auch geistig zu überwinden, den Aufbau einer demokratischen politischen Kultur von den relevanten Kompetenzen her zu fördern, den Prozess politischer Neuorientierung bei den Besiegten (insb. Deutschland und Japan, aber auch Österreich und Italien) zu unterstützen sowie langfristig deren Verhältnis zu den Siegermächten und der internationalen Völkergemeinschaft im Sinne der Sicherheit und des Friedens zu beeinflussen (Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – von 1945 bis 1990). Ansatzpunkte der R. waren einerseits das Bildungs-, Kultur- und Informationswesen, andererseits der Aufbau demokratischer Strukturen in öffentlichem Leben und Verwaltung und schließlich die Eröffnung von Kulturkontakten in internationalen Begegnungen (interkulturelle Erwachsenenbildung).

Pädagogisch-systematisch bezeichnet R. den Vorgang einer grundlegenden Neubildung sowie die darauf zielenden Maßnahmen. In diesem Sinne bedeutet R. intellektuell-­mentale Reorientierung und Revision, im Zusammenhang mit dem Wechsel einer für das Weltbild relevanten Gesellschaftsordnung, des politischen Systems oder der Lebensverhältnisse (sozialer Auf- oder Abstieg, Berufswechsel, Rollenverlust, Migration). Begrenzte Analogien bestehen zur Umschulung, zum rehabilitativen Lernen und zur Resozialisierung (Sozialisation). Auch wenn der Prozess der R. durch externe Größen beeinflusst wird (darunter auch solchen der Erwachsenenbildung), bedarf er zu seinem Gelingen der Selbststeuerung durch die Lernenden (Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen).

R. unterliegt unterschiedlichen Bewertungen: auf der einen Seite verurteilt als Fortsetzung der psychologischen Kriegsführung gegenüber Machtunterworfenen (in der Nähe zu „Gehirnwäsche“ oder „Charakterwäsche“), auf der anderen Seite begrüßt als Voraussetzung für die Einführung einer Demokratie. Das Wort R. wurde in Deutschland zumeist als „Umerziehung“ im Sinne autoritärer Überformung und kultureller Überwältigung von Machtunterworfenen verstanden, während das englische Wort education nicht nur „Erziehung“ bedeutet, sondern auch Bildung und einen positiven Wertbegriff darstellt. Als weniger anstößige Bezeichnungen wurden auch „Educational Reconstruction“, „Neubildung“ und „Neuorientierung“ verwendet.

Die drei westlichen Besatzungsmächte unterschieden sich untereinander hinsichtlich der Konzeptionen und Umsetzungen von R. Ein eigenes Kapitel von R. ist die Bildungs- und Kulturarbeit für Kriegsgefangene in den Lagern der alliierten Gewahrsamsmächte. Die Arbeit von Henry Faulk, dem britischen Leiter der R. für deutsche Kriegsgefangene, bietet bis heute eine einzigartige historische Quelle zur R. In ihrer militärischen und ihrer zivilen Variante gilt die britische R. als besonders überlegt, engagiert, dabei zurückhaltend und wirkungsvoll.

Auch die sowjetische Besatzungsmacht war bestrebt, auf das Bildungs- und Kultursystem in ihrer Besatzungszone mit antifaschistischer, wenngleich nicht liberal-demokratischer Zielsetzung einzuwirken. Bildungsgrad und reformerisch-förderndes Selbstverständnis der sowjetischen Bildungs- und Kulturoffiziere entsprachen denen ihrer Amtskollegen aufseiten der westlichen Besatzungsmächte.

Historisch bietet R. ein breites Feld erwachsenenbildungsrelevanter Entwicklungen. Abgesehen von ersten Maßnahmen zwangsweiser Konfrontation mit NS-Verbrechen, arbeitete R. mit dem Prinzip der Freiwilligkeit und einem reichhaltigen methodisch-didak­tischen Repertoire (Didaktik – Methodik). Zu R. im weiteren Sinne gehörte außer der Förderung der Medien auch der Aufbau eines freiheitlichen Erwachsenenbildungswesens ( Institutionen der Weiterbildung; Professionalisierung). Im Sinne von „Reorientierung“ stellt R. auch heute noch einen grundlegenden Aspekt des transformativen Lernens im Lebenslauf dar (transformative Erwachsenenbildung).

Die Bedeutung der R. für die Theorie der Erwachsenenbildung ist noch nicht ausgeschöpft. Abgelöst von dem historischen Ereignis bietet R. Erkenntnisse hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen des pädagogischen Umgangs mit Propaganda, der Resozialisierung, einer Bildungshilfe für stark ideologisierte Gruppen, der Neuorientierung von Zuwandernden (Migration) aus diktatorisch verfassten Staaten und Gesellschaften und der Ethik pädagogischen Handelns (Ethik professionellen Handelns) gegenüber Machtunterworfenen.

Literatur

Hooper, K. R. (2014). Designing democracy. Reeducation and the America Houses (1945–1961). The American Information Centers and their involvement in democratic re-education in Western Germany and West Berlin from 1945 to 1962. Frankfurt a. M.: Peter Lang.

Fritsche-Fehr, M. (2019). Demokratie im Ohr: Das Radio als geschichtskultureller Akteur in Westdeutschland, 1945–1963. Bielefeld: transcript.

Ziegler, C. (1997). Lernziel Demokratie: Politische Frauenbildung in der britischen und amerikanischen
Besatzungszone 1945–1949
(Reihe Studien zur internationalen Erwachsenenbildung, Bd. 11). Köln: ­Böhlau.

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