Migration

Halit Öztürk

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-199

M. (von lat. migrare bzw. migratio (aus-)wandern, wegziehen, sterben) ist ein weltweit bekanntes und gewöhnliches Phänomen, das in der deutschen Migrationsgesellschaft (Gesellschaft) große öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. Die M. ist Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens und somit Gegenstand intensiver, aktueller sowie zukünftiger Diskurse, nicht zuletzt zur Frage der Teilhabe (Öztürk, 2021). Die Erwachsenen- und Weiterbildung setzt sich aktiv mit diesen Diskursen auseinander, weshalb das Thema M. eine zentrale Rolle spielt.

Werden die verschiedenen Definitionen zusammengefasst, die in Wissenschaft und Praxis zu divergierenden Verständnissen von M. führen, ist allen die Bewegung bzw. Wanderung und der Ortswechsel gemein. Demzufolge kann M. als ein Sammelbegriff für alle Wanderungsprozesse von Individuen oder Personengruppen bezeichnet werden (ebd.).

Konkretisieren und differenzieren lässt sich dieses allgemeine Verständnis von M. anhand der verschiedenen Merkmale Raum, Zeit und Motive (Düvell, 2006; Han, 2016; Öztürk, 2021; Treibel, 2011):

  • Räumliche Merkmale fokussieren u. a. die geografische Distanz oder das Überschreiten nationalstaatlicher Grenzen, wobei zwischen Binnenmigration (landesinterne Wanderungen, z. B. von ländlichen zu städtischen Regionen) und internationaler M. (nationalstaatliche, grenzüberschreitende Wanderungen) unterschieden werden kann. Aufgrund der weltweiten Verflechtungen und Vernetzungen und insb. der innerhalb der Europäischen Union (EU) geltenden Freizügigkeitsrechte nimmt die Aussagekraft dieser Unterscheidung allerdings ab; so werden die Wanderungen innerhalb der Grenzen der EU bereits unter den Begriffen „Mobilität“ bzw. „Binnenmigration“ zusammengefasst.
  • Zeitliche Merkmale betreffen die Dauer der Verlagerung des Lebensmittelpunkts und unterscheiden dementsprechend zwischen permanenter und temporärer M. Strittig ist hier aber, ab welcher Dauer eine Migrationsbewegung als „temporär“ oder „permanent“ zu bezeichnen ist. Die sog. Kurzzeitmigration (short-term migration) liegt nach der Definition der Vereinten Nationen (UN) mit einer Dauer von mindestens drei Monaten und weniger als einem Jahr vor, die sog. Langzeitmigration (long-term mi­gra­tion) ab einer Dauer von mindestens zwölf Monaten.
  • Schließlich wird mit Blick auf die Migrationsmotive, die oft mithilfe verschiedener theoretischer Ansätze (z. B. Push-Pull-Modell von Everett S. Lee) begründet werden, zwischen unfreiwilliger und freiwilliger M. unterschieden. Dabei bewegen Push-Faktoren (z. B. politische und religiöse Verfolgung im Heimatland) die Menschen zur Auswanderung, während Pull-Faktoren (z. B. politische Stabilität oder wirtschaftlicher Wohlstand des Zielorts) die Zuwanderung befördern. Auch eine solche Unterscheidung ist nicht unproblematisch, denn welche dieser Faktoren in welchem Umfang die Menschen zur M. bewegen und wie sich Menschen tatsächlich zur M. entscheiden, ist noch nicht abschließend geklärt. Hinzu kommen vielfältige globale wirtschaftliche Interdependenzen, lebensweltliche Verflechtungen (Lebenswelt) sowie die digitale Transformation, die das Migrationsverhalten beeinflussen und in unterschiedlichen Migrationsformen zum Ausdruck kommen können.

Für die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland sind folgende Migrationsformen kennzeichnend (Düvell, 2006; Oltmer, 2017; Öztürk, 2021; Treibel, 2011):

  • Die erste Form von M., die sog. Aussiedlermigration, entstand mit der Gründung der Bundesrepublik 1949. Millionen von Ausgesiedelten und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten wanderten auf Grundlage des Bundesvertriebenengesetzes in die Bundesrepublik ein. Dies wiederholte sich in den 1990er Jahren, als nach der Herstellung der Einheit Deutschlands in den Jahren 1990 bis 2020 wiede­rum über 2,5 Mio. von sog. (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedlern nach Deutschland zogen.
  • Der rasche wirtschaftliche Aufschwung („Wirtschaftswunder“) in der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren führte zur zweiten Migrationsform, der sog. Arbeitsmigration, in deren Zuge von 1955 bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 mehrere Millionen von Arbeitskräften aus dem Mittelmeerraum angeworben wurden. Zu dieser Zeit und auch in den nachfolgenden Jahren wurde die Zuwanderung nach Deutschland lediglich als ein vorübergehendes Phänomen aufgefasst. Dass dies nicht der Realität entspricht, zeigte sich bereits an dem stetigen Familiennachzug. Dennoch standen in dieser Zeit weiterhin die Förderung der Rückkehrbereitschaft ausländischer Arbeitnehmender auf Basis des hierfür erlassenen Rückkehrhilfegesetzes im Fokus politischer Bemühungen und nicht die Integration der ausländischen Arbeitnehmenden und ihrer Familien in die deutsche Gesellschaft. Die offizielle Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland und der damit verbundene Fokus auf Integration und Partizipation erfolgten erst zwei Jahrzehnte später.
  • Sowohl in der Zeit der 1980er bis Anfang der 2000er Jahre als auch seit den Jahren 2015 (v. a. aus Syrien) und 2022 (v. a. aus der Ukraine) tritt in der Bundesrepublik verstärkt eine weitere Form der Zuwanderung auf – die sog. Fluchtmigration. Zu dieser Form der M. zählen alle Wanderungsbewegungen von Menschen aus unterschiedlichen Ländern, die aus diversen Gründen Schutz und Asyl in Deutschland suchen. So kamen bspw. zwischen 1990 bis März 2022 rund 5,3 Mio. Menschen als Geflüchtete bzw. Asylsuchende nach Deutschland.
  • Nicht unerwähnt bleiben sollten überdies Migrationsformen wie die Zuwanderung von EU-Staatsangehörigen (sog. Unionsbürgerinnen und -bürger; in den letzten Jahren jährlich 600 bis 800 Tsd. Zuzüge von EU-Staatsangehörigen nach Deutschland), die Zuwanderung von Studierenden aus Nicht-EU-Staaten (die Zahlen pendeln jährlich zwischen 60 und 80 Tsd.) und die irreguläre M. von einzelnen Personen aus unterschiedlichen Teilen der Welt (bislang keine genauen Zahlen bekannt).

Die weltweite Corona-Pandemie hat – neben dem Alltags- und Berufsleben – auch Flucht und M. in hohem Maße beeinflusst und verändert. Die Migrations- und Fluchtbewegungen waren weltweit eingeschränkt. Allein in Deutschland zogen laut dem Statistischen Bundesamt im ersten „Corona-Jahr“ 2020 rund 20 Prozent weniger Menschen aus dem Ausland nach Deutschland. Besonders hart waren Geflüchtete getroffen, weil der Zugang zu Asyl massiv eingeschränkt war. Die mittel- und langfristigen Folgen und Auswirkungen der Corona-Krise auf Flucht und M. sind noch nicht absehbar und wird womöglich eine neue Bewertung und Einordnung der migrationsrelevanten Merkmale und Ansätze notwendig machen.

Das Thema M. hat schon immer großes Interesse seitens der nationalen wie auch der internationalen Wissenschaft gefunden und ist indessen zu einem interdisziplinären Querschnittsthema und Gegenstand vieler Fachdisziplinen (Interdisziplinarität) geworden (Öztürk, 2021; Treibel, 2011). Mittlerweile liegt eine Vielzahl an Ansätzen vor, die die Ursachen, den Verlauf und die Folgen von Migrationsbewegungen und -entscheidungen aus verschiedenen theoretischen Blickwinkeln betrachten (Aigner, 2017; Düvell, 2006):

  1. Der erste theoretische Strang blickt auf die Makroebene und erklärt sowohl landesinterne als auch internationale Wanderungen unter Bezugnahme auf die strukturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen in den Herkunfts- und Zielregionen. Zu nennen sind z. B. die bevölkerungsgeografischen (u. a. Ernest G. Ravenstein, George K. Zipf, Stuart C. Dodd), die makroökonomischen (u. a. W. Arthur Lewis, John R. Harris, Michael P. Todaro) und die arbeitsmarktsegmentationstheoretischen Ansätze (u. a. Clark Kerr, Peter B. Doeringer, Michael J. Piore).
  2. Der zweite theoretische Strang blickt auf die Mikroebene und analysiert insb. die Bedingungen und Gründe für Migrationsentscheidungen von Individuen unter Berücksichtigung ihrer kulturellen, sozialen und ökonomischen Ressourcen sowie Persönlichkeitsmerkmale, so z. B. die neoklassischen mikroökonomischen (u. a. Larry A. Sjaastad , Alden Speare), die neuen migrationsökonomischen (u. a. Oded Stark, Edward J. Taylor) und die entscheidungstheoretischen Ansätze (u. a. Everett S. Lee, Julian Wolpert, Gordon F. De Jong, James T. Fawcett).
  3. Schließlich entwickelt sich ein dritter theoretischer Strang im kritischen „Spagat“ zwischen makro- und mikrotheoretischen Ansätzen und fokussiert die Mesoebene, indem u. a. globale Verflechtungen, Rolle und Bedeutung von sozialen Beziehungen und Netzwerken sowie von Organisationen beschrieben werden. Beispiele dazu sind die Ansätze der transnationalen M. (u. a. Nina Glick-Schiller, Ludger Pries), der Migrationssysteme (u. a. Mary M. Kritz, Hania Zlotnik) und des Sozialen Kapitals (u. a. Alejandro Portes, Julia Sensenbrenner, Kristin Espinosa, Douglas Massey).

Hinzu kommt eine beträchtliche Zahl von (politisch-programmatischen) Ansätzen und Modellen zur Integration von zugewanderten Menschen in die jeweilige Gesellschaft des Ziellands und deren Strukturen und Regeln. Über diese wird in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft – ob in Deutschland oder in weiten Teilen der Welt – immer wieder kontrovers diskutiert. Vereinfacht zusammengefasst lassen sich drei theoretische Richtungen als zentral herausstellen (Aigner, 2017; Han, 2016; Treibel, 2011):

  1. Die erste Richtung geht von der Annahme der Assimilation aus, also mehr oder weniger von der vollständigen Anpassung von Zugewanderten u. a. an die kulturellen, sozialen und politischen Gegebenheiten der Aufnahmegesellschaft, wie z. B. in den Konzepten von Robert E. Park und Ernest W. Burgess, Milton M. Gordon oder Hartmut Esser.
  2. Als Gegenposition zu diesen assimilativen Konzepten entstand die zweite programmatische Richtung, die die Grundidee des Multikulturalismus bzw. der multikulturellen Gesellschaft teilt und daher die Anerkennung kultureller Vielfalt als Zielvorgabe setzt (interkulturelle Erwachsenenbildung). Integration wird als gemeinsamer und interaktiver Prozess zwischen der aufnehmenden Gesellschaft und den zugewanderten Menschen verstanden, wie z. B. in den Konzepten von Horace M. Kallen, Will Kymlicka oder Charles Taylor.
  3. Die dritte Richtung des Transnationalismus widerspricht diesen beiden Sichtweisen und verweist auf die Herausbildung von transnationalen Identitäten (Identität) durch die multilokalen Beziehungen zwischen Herkunfts- und Zuwanderungsland, wie z. B. in den theoretischen Ansätzen von Nina Glick-Schiller oder Ludger Pries.

Erst um die Jahrtausendwende erfuhr der Themenkomplex Zuwanderung und Integration hohe Aufmerksamkeit in Forschung, Politik und Praxis. Bspw. wurden im Jahr 2005 erstmals die migrations- und integrationspolitischen Aspekte in einem Gesetzeswerk, dem Zuwanderungsgesetz, geregelt und dabei für Zugewanderte verpflichtende Angebote zur Integrationsförderung (sog. Integrationskurse) festgeschrieben. Hinzugekommen ist im Verlauf dieser Diskussion der Blick auf die Diversität der Gesellschaften und Kulturen (Inklusion – Diversität) sowie auf die Organisationen mit ihren Handlungspraktiken, wie sie z. B. in Konzepten des Diversity Managements und der Interkulturellen Öffnung beschrieben und erklärt werden (Öztürk, 2021; Öztürk & Reiter, 2017).

Betrachtet man die Thematik der M. aus der Perspektive der Erwachsenen- und Weiterbildung, so wird offensichtlich, wie sehr sie weiterhin einer umfassenden theoretischen und empirischen Aufarbeitung bedarf. Denn im Vergleich zu anderen Fachdisziplinen hat dieses Thema in der Weiterbildungsforschung eine verspätete und begrenzte Aufmerksamkeit erfahren (Öztürk, 2021) und wurde erst in den vergangenen zehn bis 15 Jahren zunehmend diskutiert. Empirische Ergebnisse zur Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung spiegeln bspw. wiederkehrend eine Unterrepräsentanz von Erwachsenen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Erwachsenen ohne Migrationshintergrund wider – insb. in der betrieblichen Weiterbildung. I. d. R. wird diese auf deren durchschnittlich niedrigeren Bildungs- und Erwerbsstatus sowie fehlende Deutschsprachkenntnisse zurückgeführt. Allerdings beruhen derlei Befunde auf einem geringen Differenzierungsgrad des Migrationshintergrunds. Erst dessen weitergehende Aufschlüsselung zeigt nicht nur die große Diversität der betreffenden Erwachsenen, sondern auch die deutlichen Unterschiede hinsichtlich Weiterbildungsbeteiligung, -motiven und -barrieren (Regulative der Weiterbildungsbeteiligung) (ebd.). Während zunehmend migrationsspezifische Merkmale bei Personenbefragungen im Bereich der Teilnehmer- und Adressatenforschung (wie Adult Education Survey (AES), Nationales Bildungspanel (NEPS), Mikrozensus) und bei empirischen Studien berücksichtigt werden, ist die Forschungslage zum professionellen Umgang mit migrationsbezogenen Themen und Herausforderungen sowohl auf personaler als auch auf organisationaler Ebene noch unzureichend (ebd.). Infolgedessen stehen repräsentative Ergebnisse zu den diversitätsorientierten Bemühungen und Aktivitäten von Weiterbildungsorganisationen, insb. mit Blick auf die Organisationsentwicklung und Personalentwicklung, noch aus. Dass sie sich diesbezüglich zunehmend mit einem breiten Spektrum an Weiterbildungsangeboten sowie Initiativen und Maßnahmen einbringen, belegen die bereits vorliegenden Studien (z. B. Öztürk & Reiter, 2017; wbmonitor). Schließlich sind Weiterbildungsorganisationen im Hinblick auf eine Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit gefordert, sich auch den migrationsbezogenen Herausforderungen zu stellen und dabei Strategien für eine diversitätsorientierte Angebots-, Organisations- und Personalentwicklung auszuarbeiten und umzusetzen. Mit dem fortwährenden Ziel einer diversitätsbewussten Haltung sollte die Weiterbildungsforschung diese Strategien und Maßnahmen sowohl kritisch betrachten und analysieren als auch konzeptionell unterstützen.

Literatur

Aigner, P. (2017). Migrationssoziologie. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS.

Düvell, F. (2006). Europäische und internationale Migration. Einführung in historische, soziologische und politische Analysen. Hamburg: LIT.

Han, P. (2016). Soziologie der Migration. Erklärungsmodelle, Fakten, politische Konsequenzen, Perspektiven (4. Aufl.). Konstanz: UVK.

Oltmer, J. (2017). Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart. Darmstadt: Theiss.

Öztürk, H. (2021). Diversität und Migration in der Erwachsenen- und Weiterbildung. Lehrbuch zur diversitätsorientierten Forschung und Praxisgestaltung (utb 5684). Bielefeld: wbv Publikation.

Öztürk, H. & Reiter, S. (2017). Migration und Diversität in Einrichtungen der Weiterbildung. Eine empirische Bestandsaufnahme in NRW (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, Bd. 37). Bielefeld: wbv Publikation.

Treibel, A. (2011). Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht (5. Aufl.). Weinheim: Juventa.

Methoden
Milieuforschung