Milieuforschung

Rudolf Tippelt

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-200

Soziale Milieus sind typische, durch Klassifikation und Konstruktion geordnete Muster der Lebensführung in einer modernen Gesellschaft. Mit ihnen werden Menschen zusammengefasst, die sich in ihrer sozialen Lage sowie in ihrem Lebensstil zumindest ähneln und in gewisser Weise Einheiten innerhalb der Gesellschaft darstellen. Auf diese Weise können Aussagen über die pluralisierte und hoch differenzierte Bevölkerung getroffen werden. Im Gegensatz zu sozialen Schichten lassen sich soziale Milieus nicht nur nach Berufsstatus, Bildungsabschluss und Einkommen hierarchisch ordnen (vertikale Differenzierung). Sie können auch nebeneinanderstehen, wenn man die Aufmerksamkeit auf Lebensstile, Werte, Einstellungen und Erlebnisziele richtet (horizontale Differenzierung). Ebenso können Milieugrenzen „quer“ zu den sozial-hierarchischen Strukturen verlaufen (Barz & Tippelt, 2004; Bremer, 2012).

Die Beschreibung soziokultureller Muster der Lebensführung im Milieuansatz sprengt die Vorstellungen sowohl von einer individualisierten Gesellschaft (Individualisierung) als auch von einer Schicht- und Klassengesellschaft und arbeitet stattdessen die pluralen, aber noch immer differenten Bedingungen der Sozialstruktur in modernen Gesellschaften heraus. Das Konzept der M. wurzelt in der Lebensweltforschung (Lebenswelt), für die Peter L. Berger und Thomas Luckmann mit ihrem Werk „Die gesellschaftliche Kon­struktion der Wirklichkeit“ 1966 den Grundstein legten, und hebt die soziokulturellen Rahmenbedingungen der Sozialisation hervor. Darüber hinaus unterstützt die M. in der Anwendung ihrer Ergebnisse die Nutzer- und Teilnehmerorientierung in der Erwachsenenbildung.

Die neuere wissenschaftliche Modellierung soziokultureller Milieus betont die Bedeutung der Erfahrungen und des Erlebens von Menschen sowie deren kulturellen und ästhetischen Prägungen. Sowohl bildungs- und lebensphilosophische Interpretationen als auch empirische Milieuanalysen versuchen, die subjektive Konstruktion der Wirklichkeit durch Individuen (Konstruktivismus) in ihren jeweiligen sozialen und kulturellen Bezugsgruppen zu verstehen. Insofern ist die M. mit der Analyse der „feinen Unterschiede“ sozialer Gruppen in einer heterogenen Gesellschaft von Pierre F. Bourdieu verwandt. Die soziokulturelle M. ist deskriptiv, aber gleichzeitig in der Lage, feine soziokulturelle Differenzierungen zwischen sozialen Gruppen aufzuzeigen. Im Kontext sozial-struktureller Analysen ist sie in dieser Hinsicht ein spezifischer Ansatz, der die soziale Selektivität in der Erwachsenenbildung reflektiert. Es geht erwachsenenpädagogisch darum, die Suchbewegungen der Lernenden einerseits und die der Weiterbildungsinstitutionen (Institutionen der Weiterbildung) und Dozierenden (Kursleitende – Trainer – Beratende) andererseits adäquat aufeinander zu beziehen und dazu die jeweiligen Werte, Lebensorientierungen und Einstellungen der Zielgruppen wissenschaftlich zu analysieren (Zielgruppenorientierung). Dieses Wissen der M. kann dann zielgerichtet beim professionellen makro- und mikrodidaktischen Handeln (didaktische Handlungsebenen) berücksichtigt werden.

Dennoch hat sich empirisch gezeigt, dass einzelne Erwachsenenbildungseinrichtungen nicht alle sozialen Milieus erreichen – zu unterschiedlich sind die Anforderungen und Wünsche an Dozierende, an das Ambiente, die Inhalte und Themen sowie die methodischen Angebotsformen (Methoden). Durch spezifische Programme und Angebote können einzelne soziale Milieus aber auch nicht isoliert angesprochen werden (Reich & Tippelt, 2004). Für die Praxis bedeutet dies – im Interesse einer breiten milieuorientierten Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung – die Notwendigkeit der Kooperation und Koordination mit anderen regionalen Anbietern.

Die aktuelle Milieustruktur lässt sich grob in traditionelle Milieus, moderne Mainstream-Milieus, etablierte, intellektuelle, modern-leistungsorientierte und konsumorientierte, materialistische (prekäre) Segmente differenzieren. Aber soziale Milieus sind dynamisch und verändern sich mit dem gesellschaftlichen und sozialen Wandel. Auch in der M. lässt sich zeigen, dass Biografien zunehmend entstandardisiert sind, und dennoch werden im Konzept der M. die ungleichen soziostrukturellen und -kulturellen Rahmenbedingungen hervorgehoben (Tippelt & Schmidt-Hertha, 2020).

Literatur

Barz, H. & Tippelt, R. (2004). (Hrsg.). Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland (2 Bde., Reihe DIE spezial). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Bremer, H. (2012). Die Milieubezogenheit von Bildung. In U. Bauer, U. H. Bittlingmayer & A. Scherr (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie. Bildung und Gesellschaft (S. 829–846). Wiesbaden: Springer VS.

Reich, J. & Tippelt, R. (2004). Didaktische Handlungsfelder im Kontext der Milieuforschung. Hessische Blätter für Volksbildung, 54(1), 23–36.

Tippelt, R. & Schmidt-Hertha, B. (2020). Sozialisation und informelles Lernen im Erwachsenenalter (Lehrbuchreihe Erwachsenen- und Weiterbildung. Befunde – Diskurse – Transfer, Bd. 3, utb 5621). Bielefeld: wbv Publikation.

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