Lernstile

Josef Schrader

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-187

L. von Erwachsenen werden seit etwa fünf Jahrzehnten und mit bemerkenswerter Kontinuität erforscht, national wie international. Die Forschung stützt sich teils auf experimentelle Labor-, teils auf korrelationsstatistische oder explorative Feldstudien. Die theoretischen Zugänge sind vielfältig. Forschungen zu kognitiven Stilen (Kognition) gehen von relativ stabilen, kognitiv nur begrenzt zugänglichen Persönlichkeitsmerkmalen aus, die sich auf eingegrenzte kognitive Aspekte des Lernens (z. B. Wahrnehmung, Informationsverarbeitung) beziehen. Demgegenüber wird der Begriff „Lernstrategie“ (Lernstrategien – Arbeitstechniken) als mental repräsentiertes Schema oder als kognitive Handlungssequenz i. d. R. für die bewusste Steuerung des Handelns in spezifischen Lernsituationen verwendet (z. B. kognitive und metakognitive Strategien bei der Textverarbeitung, Ressourcenmanagement). Die Begriffe L. und „Lerntypen“ sind eher in der Mitte eines so definierten Kontinuums angeordnet und bringen zumeist situationsübergreifende und breit gefasste Präferenzen für Handlungs- und Verhaltensweisen in Lernsituationen zum Ausdruck, die gleichwohl situationsspezifisch modifiziert werden können. Je nachdem, welche Aspekte des Lernverhaltens in den Blick genommen werden (z. B. die Lernmotivation und die Leistungsmotivation, die bevorzugten Medien und Arbeitsformen, die Art und Weise der Verarbeitung von Informationen), resultieren unterschiedliche Stil- oder Typenbeschreibungen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit individuellen Lernstilen nimmt ihren Ausgang oft von unzureichenden oder gar misslingenden Lehr-Lern-Prozessen; ihre Befunde werden in der Praxis zumeist auf der Suche nach passenden Angeboten rezipiert.

Lernstilforschungen beruhen i. d. R. auf Annahmen der kognitiven Psychologie, wonach Lernen als ein (aktiver) Prozess der Verarbeitung von Informationen beschrieben und analysiert wird. Frühe Anregungen stammen u. a. von Jérôme Bruner und Jean Piaget, die qualitative Stufentheorien kognitiver Entwicklung konzipiert haben. Als in den 1970er und 1980er Jahren erstmals viele „nicht-traditionelle“ Studierende an die Hochschulen kamen, zielten v. a. anglo-amerikanische Forschungen darauf, die Strategien „erfolgreicher“ Studierender zu identifizieren und sie den weniger erfolgreichen in Trainingskursen zu vermitteln. An diese Forschung wurde in den vergangenen Jahren wieder angeknüpft (Martin & Nicolaisen, 2015). Andere hingegen plädierten stärker für differenzierte Lehrstrategien, um individuell stabile L., die in eigens entwickelten Tests zu diagnostizieren seien (Gicco, 2014), angemessen unterstützen zu können.

In der Bundesrepublik Deutschland ist das Phänomen individueller Unterschiede beim Lernen durch die neurobiologisch inspirierten Arbeiten Frederic Vesters popularisiert worden, der biografisch früh fixierte sensomotorische Verarbeitungsweisen als Grundlage einer Lerntypologie betrachtete (auditiver Lerntyp, visueller Lerntyp, haptischer Lerntyp usw.). Im Zusammenhang mit der Diskussion um Teilnehmerorientierung in der Erwachsenenbildung hypothetisierte Hans Tietgens im Anschluss an Sprachstilforschungen in der Tradition Basil Bernsteins einen imitativen, additiv-kasuistischen, auf die mechanische Aneignung einzelner Informationen gerichteten Lerntyp von einem sinnvorwegnehmend-generalisierenden Typ, der Verallgemeinerungen und Differenzierungen erlaubt und damit Transfer erleichtert (Tietgens & Weinberg, 1975, S. 88). In einer korrelationsstatistischen Befragungsstudie identifizierte Schrader (2008) in der beruflichen Weiterbildung fünf Lerntypen (Idealtypen im Sinne Max Webers) und beschrieb sie als (1) Theoretiker (erfolgszuversichtlich, zielgerichtet, intrinsisch motiviert, lernen gerne und gut aus Texten, zielen auf Verstehen von Zusammenhängen), (2) Anwendungsorientierte (lernen für und durch Anwendung, probieren gerne selbstständig aus, brauchen Anschauung), (3) Musterschüler (sind ehrgeizig, fleißig, lernen für gute Noten und Zertifikate, wünschen Anleitung, konzentrieren sich auf die Reproduktion von Faktenwissen), (4) Gleichgültige (lernen nicht mehr, als sie unbedingt gegen das Leben brauchen, sind ohne besondere Vorlieben oder Abneigungen, konzentrieren sich auf das, was ihnen abverlangt wird) und (5) Unsichere (misserfolgsängstlich, wünschen Unterstützung und Anleitung, konzentrieren sich auf das Einprägen der wichtigsten Fakten).

Gegenüber Annahmen, die von Spielarten des Konstruktivismus inspiriert wurden, wonach Erwachsene als „autopoietische Systeme“ zwar „lernfähig, aber unbelehrbar“ (Horst Siebert) seien, verweisen die Arbeiten zu Lernstilen vornehmlich auf die Schnittstelle von Prozessen der Aneignung und Vermittlung (Rogowsky, Calhoun & Tallal, 2015). Die Herstellung einer „Passung“ (Hans Tietgens) scheint am ehesten dann möglich, wenn Lehrende und Lernende über ein reflektiertes und differenziertes, situations- und typangemessenes Repertoire an Lehr- und Lernstrategien verfügen. Kaum empirisch erforscht ist allerdings bisher, inwieweit sich L. in der Biografie wandeln bzw. gezielt verändern lassen und wie sich persönliche Präferenzen und situative Flexibilität der Lernenden in unterschiedlich gestalteten didaktischen Arrangements zueinander verhalten.

Literatur

Gicco, G. (2014). Learning-style assessment in online courses. A prerequisite for academic success. Journal of Educational Technology, 11(2), 1–5.

Martin, P.-Y. & Nicolaisen, T. (Hrsg.). (2015). Lernstrategien fördern. Modelle und Praxisszenarien. Weinheim: Beltz.

Rogowsky, B. A., Calhoun, B. M. & Tallal, P. (2015). Matching learning style to instructional method. Effects on comprehension. Journal of Educational Psychology, 107(1), 64–78.

Schrader, J. (2008). Lerntypen bei Erwachsenen. Empirische Analysen zum Lernen und Lehren in der beruflichen Weiterbildung (2., erg. Aufl.). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Tietgens, H. & Weinberg, J. (1975). Erwachsene im Feld des Lehrens und Lernens (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung). Braunschweig: Westermann.

Lernorte
Lernstrategien – Arbeitstechniken