Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – von 1918 bis 1933

Martha Friedenthal-Haase & Elisabeth Meilhammer

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-119

Mit der Gründung der Weimarer Republik 1918/19 und der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer und Frauen wurde die Bedeutung geistiger Neuorientierung und politischer Bildung für die informierte Wahlentscheidung in der Demokratie unabweisbar. Erstmals wurden in einer deutschen Verfassung kulturelle Ziele und Rechte verankert. Dazu gehörten die Gründung von Volkshochschulen (vhs) und die Förderung der E. als öffentliche Aufgabe (Art. 148 WRV).

Ab 1919, vereinzelt schon 1918, wurden vhs in der ganzen Republik als Stätten einer selbstorganisierten, lebensbedeutsamen und weltanschaulich „freien“ (d. h. neutralen) Bildung in lokaler Initiative gegründet (mit einzelnen Vorläufern bereits im Deutschen Kaiserreich). Neben einer innovativen Methodik (Arbeitsgemeinschaft) bildeten sich im Rahmen der sog. Neuen Richtung die Berliner Richtung, die Thüringer Richtung und die Leipziger Richtung heraus.

Zudem entwickelte sich eine differenzierte Landschaft „gebundener“ (konfessioneller, sozialistischer, national-konservativer und völkischer) Bildungsträger, sodass sich die E. in den 1920er Jahren zu einem plural organisierten, eigenständigen, nicht-staatlichen Bildungsbereich mit deutlicher Tendenz zur Professionalisierung (verstanden im Sinne von fachlicher Selbstorganisation, Akademisierung sowie Beruflichkeit, z. T. im Hauptamt) emanzipierte und auch wissenschaftlich reflektiert wurde. 1922 erfolgte die erste akademische Antrittsvorlesung zum Problem der Erwachsenenbildung von Wilhelm Flitner an der Universität Jena (Friedenthal-Haase, 1991, S. 44–45); 1923 die Gründung des Hohenrodter Bundes als Gesprächskreis von Denkern und Praktikern der E. (da­run­ter sehr vereinzelt auch Frauen); 1923 die Gründung des Seminars für freies Volksbildungswesen an der Universität Leipzig; 1927 die Gründung der Deutschen Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung als Stätte der Mitarbeiterweiterbildung und Erwachsenenbildungsforschung (Weiterbildungsforschung). In dieser Zeit entstanden auch empirische Untersuchungen zur E., u. a. an der Universität Leipzig (Hermberg & Seiferth, 1932).

Begleitet und vorangetrieben wurde diese Entwicklung durch ein fachliches Kommunikations- und Publikationswesen, mit Fachverbänden und Konferenzen sowie durch den 1918 gegründeten Weltbund für Erwachsenenbildung, in dem ab 1925 auch die deutsche E. vertreten war. Internationalität und Interkulturalität (interkulturelle Erwachsenenbildung) wurden angestrebt, insb. auch für die Nicht-Privilegierten (z. B. Auslandsreisen mit Adolf Reichwein). Vielfältige neue Wege taten sich in der E. auf, so z. B. in der Frauenbildung (z. T. mit eigenen Abteilungen an vhs, insb. durch Carola Rosenberg-Blume in Stuttgart) oder bei der Nutzung des Rundfunks für die E. (z. B. Paul Honigsheim im Westdeutschen Rundfunk) (Funkkolleg). E. konnte zum Hauptberuf werden – in Heimvolkshochschulen und bei der Leitung einzelner städtischer Abendvolkshochschulen (u. a. in Köln, Berlin, Leipzig, Jena, Magdeburg) oder Bildungsstätten der Arbeiterbewegung (Arbeiterbildung).

In Volkshochschulkreisen umstritten blieb der individuelle Bildungsaufstieg als ein allgemeines Ziel der E. Unabhängig von den vhs und von diesen z. T. skeptisch betrachtet, entstanden das Fernschulwesen (Fernstudium; Fernunterricht) und erste Möglichkeiten für einen Bildungsaufstieg auf dem zweiten Bildungsweg (Fritz Karsen in Berlin). Auch wenn sich manche Veranstaltungen der vhs für Beruf und Arbeit nutzen ließen, sahen sich die vhs prinzipiell nicht verantwortlich für die berufliche Aus- und Weiterbildung (berufliche Weiterbildung; Berufsbildung) und wollten diese den Berufsverbänden und Kammern, den Gewerkschaften und den kommerziellen Anbietern überlassen, wobei die vhs beruflich verwertbare Kompetenzen in bestimmten Kursen (z. B. Technisches Zeichnen, Stenotypie, Buchhaltung, Fremdsprachen) durchaus, örtlich verschieden, vermittelten.

In der pluralistischen Bildungslandschaft (Pluralismus) hatte sich, trotz Terror, Putschversuchen und Gewalt auf den Straßen, also abgesehen von der extremen Rechten und von der extremen Linken, ein bewusst toleranter Umgang mit weltanschaulicher Vielfalt entwickelt. An den allgemeinen Fachdiskursen, im Spannungsbogen von „Romantik und Aufklärung“ (Tietgens, 1969), war die kleine Gruppe der Völkischen (Bruno Tanzmann) nicht beteiligt. Ein Grundkonsens über Aufgaben und Ziele der öffentlichen E. wurde 1931 mit der sog. Prerower Formel erzielt, die in ihrem freien, der Sache angemessenen Verständnis von E. für die Abendvolkshochschule in der Demokratie den Weg hätte weisen können. Der Untergang der Demokratie im Jahre 1933 zerstörte diese Ansätze für eine zukunftsträchtige E.

Die Jahre der Weimarer Republik waren für die E. eine zu kurze Zeit, um sich, auch aus eigenen Fehlern lernend, in Wechselwirkung mit einer fragilen Demokratie stabilisieren zu können. Sowohl vom didaktischen Ansatz als auch von den bildungspolitischen Gegebenheiten her war es der E. der Weimarer Republik nicht möglich, die breiten Schichten der Wählerschaft zu erreichen; ihre Ziele und ihre Wirksamkeit richteten sich primär auf die zum kritischen Nachdenken unmittelbar ansprechbaren Personen verschiedener Kreise der Bevölkerung. Fachlich war es eine Periode von bemerkenswerten Initiativen, ein Spiegel von Anfängen moderner Bildung mit exemplarischem Wert. „Weimar“ bleibt, auch in kritischer Betrachtung, auf nahezu jedem Gebiet der E. ein didaktisches Repertoire von großem Anregungsgehalt.

Literatur

Friedenthal-Haase, M. (1991). Erwachsenenbildung im Prozeß der Akademisierung. Der staats- und sozialwissenschaftliche Beitrag zur Entstehung eines Fachgebiets an den Universitäten der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung des Beispiels Köln. Frankfurt a. M.: Peter Lang.

Friedenthal-Haase, M. & Meilhammer, E. (Hrsg.). (1999). Blätter der Volkshochschule Thüringen (1919–1933) (Wiederabdruck, 2 Bde.). Hildesheim: Olms.

Hermberg, P. & Seiferth, W. (Hrsg.). (1932). Arbeiterbildung und Volkshochschule in der Industriestadt. ­Erfahrungen aus der Volksbildungsarbeit der Stadt Leipzig. Breslau: Neuer Breslauer Verlag.

Langewiesche, D. (1989). Erwachsenenbildung. In D. Langewiesche & H.-E. Tenorth (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte (Bd. V: 1918–1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, S. 337–370). München: C. H. Beck.

Olbrich, J. (1977). Arbeiterbildung in der Weimarer Zeit. Konzeption und Praxis. Braunschweig: Westermann.

Tietgens, H. (Hrsg.). (1969). Erwachsenenbildung zwischen Romantik und Aufklärung. Dokumente zur ­Erwachsenenbildung der Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – bis 1918
Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – von 1933 bis 1945