Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – von 1933 bis 1945

Martha Friedenthal-Haase & Elisabeth Meilhammer

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-120

Der Begriff E., dessen Brauchbarkeit wegen seines humanistischen Kerns mit Bezug auf den menschenfeindlichen Nationalsozialismus (NS) prinzipiell infrage zu stellen ist, wird hier rein systematisch und nicht bildungstheoretisch gefasst und bezieht sich auf Schulungs-, Formungs-, Qualifizierungs- und Propaganda-Aktivitäten verschiedener Art.

Mit der Machtergreifung von Adolf Hitler wurde 1933 der Bildungs- und Kulturbereich der Direktive des NS-Staats unterstellt. Die E. unterlag der sog. Gleichschaltung, einem sofort einsetzenden, sich lange hinziehenden Prozess der Eingliederung und Unterordnung unter die verschiedenen Instanzen des NS-Staats. Dabei kam es frühzeitig zu Selbstauflösungen von demokratischen Einrichtungen, die sich diesem Prozess entziehen wollten (z. B. vhs Leipzig), zu Schließungen von Einrichtungen durch die neuen Machthaber (z. B. Schule der Arbeit, Leipzig) und zu Umbenennungen (z. B. vhs Jena in „Deutsche Heimatschule“). Auch erfolgten teils vorauseilende Anpassungsleistungen, um dadurch die Institution und den eigenen Arbeitsplatz zu wahren (z. B. vhs Stuttgart) oder um heimlich Elemente einer humanen Bildung weiterführen zu können. Letzteres erwies sich im Allgemeinen bereits im Verlauf der ersten Jahre des NS-Staats wegen der Durchsetzungsmacht der staatlichen Direktiven als unrealistisch (z. B. Heimvolkshochschule Edewecht bei Oldenburg). Vereinzelt wurden Volkshochschulen (vhs) auch schon vor 1933 von nationalsozialistischen Pädagogen geführt oder demokratische Selbstverwaltungsorgane der Volkshochschulvereine von Nationalsozialisten unterwandert, wie es sich bspw. in Thüringen 1930 bei der vhs Arnstadt ereignete.

Jedoch sind auch Verbindungen von Personen aus der Weimarer E. zu Widerstandskreisen gegen den NS-Staat (z. B. Adolf Reichwein) nachweisbar. Die E. wurde auf die NS-Ideologie verpflichtet. Politisch als verdächtig geltende oder „rassisch“ unliebsame Erwachsenenbildnerinnen und -bildner wurden entlassen, von denen sich manche in die Emigration retten konnten (z. B. Fritz Borinski).

Für den Machterhalt des NS-Staats war die E. – stets umrahmt von „Volksaufklärung und Propaganda“ – in allen ihren Sparten wichtig: als allgemeine Volksbildung zur mentalen Einstimmung der Menschen auf die rassistische Ideologie der sog. Volksgemeinschaft des NS, als Schulung für die Kader der NS-Führung, als berufliche Weiterbildung, um die Ziele des Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verbands Deutsche Arbeitsfront zu erfüllen, als motivierende Freizeitbildung (Freizeit) in der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude sowie als Bildung und Schulung der Frauen (unter der Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink; Berger, 2012), teils indirekt karitativ unter dem Mantel der Wohlfahrtspflege auftretend, teils der direkten Formung der Frau für die Zwecke des NS-Staats dienend (sog. Bräuteschulen der Schutzstaffel (SS)).

Durch Qualifikationserfordernisse (Qualifikation) im Zweiten Weltkrieg gewann die berufliche E. (auch mittels des Fernschulwesens) an Gewicht; die allgemeine E. war hingegen z. T. in die ablenkende und motivierende Unterhaltung der Truppen involviert. Die Organisation und Zuständigkeitsstruktur der E. im NS-Staat war außerordentlich unübersichtlich. Eine Vereinheitlichung und Integration in das allgemeine Bildungswesen und seine Professionsstruktur (Profession) erfolgte nicht. Von besonderem Einfluss war das Deutsche Volksbildungswerk, das zunächst eine Abteilung der NSDAP-Verwaltung war, 1936 zu einem Amt der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude wurde, dann zu einer Reichsarbeitsgemeinschaft für E. und 1943 schließlich zu einem Hauptamt der „Deutschen Arbeitsfront“ (Fischer, 2020, S. 59).

Zuständigkeitsüberschneidungen und Machtkämpfe zwischen Staat, Partei und SS waren im NS-Staat bekanntlich systemisch (siehe Studie „Der Doppelstaat“ von Ernst Fraenkel 1940/41) und betrafen so auch die E. Auf der obersten Machtebene rivalisierten Josef Goebbels (Volksaufklärung und Propaganda), Alfred Rosenberg (Weltanschauung) und Robert Ley (Arbeitseinsatz) um Wirkungsmacht.

Bevor der NS-Staat die Entscheidung zur physischen Vernichtung der Juden traf (Wannsee-Konferenz 1942), lag der Schwerpunkt auf der Ausgrenzung, Entrechtung, Beraubung und Vertreibung der Juden. Die internen jüdischen Bildungsunternehmungen wurden annähernd bis zur Reichspogromnacht 1938 toleriert, soweit sie der Separierung der jüdischen Bevölkerung von dem deutschen Kulturleben und der Vorbereitung auf die Auswanderung dienten. Dieser ausgegrenzten jüdischen E. (für die sich Martin Buber engagierte) kam vorübergehend eine eigene Bedeutung zu, mit dem Ziel der Stärkung der Identität der Verfolgten als geistiger Widerstand und der Bildung für die berufliche Umschichtung im Vorfeld ihrer Auswanderung. Die Phase kurzer Intensivierung der E. innerhalb eines von außen zunehmend bedrohten kulturellen Ghettos charakterisierte Bubers Mitstreiter Ernst Simon 1959 als „Aufbau im Untergang“.

Zur E. dieser Zeit sind auch Aktivitäten von Emigranten im Ausland zu zählen, bspw. in Schweden und Großbritannien, die der Vorbereitung für den Wiederaufbau einer demokratischen E. in einem vom NS befreiten Deutschland galten.

Die in der Forschung lange vernachlässigte Epoche des NS findet bildungshistorisch zunehmend Aufmerksamkeit (z. B. Keim, 1995, 1997; Seitter, 2011; Stifter, 2020). Desiderate fachgeschichtlicher Untersuchungen sind die politisch und organisatorisch vielfältig verzahnten Prozesse im Einzelnen, die tatsächliche Didaktik (auch der konfessionellen Erwachsenenbildung) hinter der institutionellen Fassade, die Perspektiven der Akteure sowie Fragen von Kontinuität und Diskontinuität zwischen den Epochen, d. h. gegenüber der E. von Weimar auf der einen und gegenüber dem Aufbau der E. in der Nachkriegszeit auf der anderen Seite.

Literatur

Berger, C. (2012). „Reichsfrauenführerin“ Gertrud Scholtz-Klink. Eine nationalsozialistische Frauenkarriere in Verlauf, Retrospektive und Gegenwart. Saarbrücken: Akademikerverlag.

Fischer, G. (2020). Die „Volksbildung“ des Deutschen Volksbildungswerks von 1933 bis 1945. Spurensuche, 29, 58–90.

Keim, H. & Urbach, D. (1976). Volksbildung in Deutschland 1933–1945. Einführung und Dokumente. Braunschweig: Westermann.

Keim, W. (1995, 1997). Erziehung unter der Nazi-Diktatur (2 Bde.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Seitter, W. (2011). Verdrängung, Eingliederung, Aufwertung – Erwachsenenbildung im Nationalsozialismus. In K.-P. Horn & J.-W. Link (Hrsg.), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit (S. 275–293). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Simon, E. (1959). Aufbau im Untergang. Jüdische Erwachsenenbildung im nationalsozialistischen Deutschland als geistiger Widerstand. Tübingen: Mohr (Siebeck).

Stifter, C. H. (Hrsg.). (2020). Nationalsozialismus und Volksbildung. Eine späte Annäherung (Schwerpunktheft, Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, 29). Wien: Verein zur Geschichte der Volkshochschulen – Förderverein des Österreichischen Volkshochschularchivs.

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