Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – bis 1918

Martha Friedenthal-Haase & Elisabeth Meilhammer

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-118

Die Geschichte der E. in Deutschland gilt (1) dem Aufstieg und Niedergang von Instituti­onen der Instruktion, Qualifizierung und Optimierung von Erwachsenen in allgemeinbildender, politischer, beruflicher und technischer Hinsicht, (2) den didaktischen Formaten, (3) den Akteuren und (4) der auf diese Verhältnisse gerichteten Theorie oder Wissenschaft. Die Geschichte der E. handelt von Lernenden, von intendiertem und nicht intendiertem Lernen, von Kommunikation und von Selbstbildung für alle Situationen und Aufgaben im Verlauf des Erwachsenenlebens. Aus dieser Gegenstandsbestimmung ergibt sich die Erkenntnis von einer ausgeprägten Lebensunmittelbarkeit des Lernens im Erwachsenenalter, d. h. seiner Verflochtenheit mit Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. E. ist immer auf Geschichte verwiesen durch die Lebensgeschichte der Lernenden (Biografie), die von der Zeitgeschichte untrennbar ist. Biografisches Lernen und Aufarbeitung der (politischen) Geschichte sind stets miteinander verknüpft und ein unverzichtbarer Bestandteil moderner E.

Die Anfänge der E. gehen ihrer Organisation voraus. Im Extremfall könnten sie bis zum Beginn überlieferter kultureller Aktivität des Menschen zurückgeführt werden. Eingesetzt wird hier bei einer Zeit, in der der Mensch als Vernunftwesen zum Ideal erhoben wurde und sich die Möglichkeiten des Zugangs zu Wissen real zu erweitern begannen: der Epoche der europäischen Aufklärung, mit Schwerpunkt im 18. Jh. Im Zeitraum vom 18. bis zum 21. Jh. wurde Deutschland von mindestens acht sehr unterschiedlichen politischen Systemen geprägt, und das Gebiet der territorialen Erstreckung wandelte sich. Die folgenden Darstellungen beziehen sich auf das in der jeweiligen Zeit Deutschland zugehörige Gebiet.

Im 18. Jh. wurde das öffentliche Kommunikationsnetz immer effektiver, einhergehend mit einem Alphabetisierungsschub in der Bevölkerung (Alphabetisierung – Grundbildung). Durch Expansion des Buch- und Zeitschriftenmarkts (Zeitschriften), Kostensenkung bei Produktion und Verbreitung von Literatur, höhere Nachfrage und das Entstehen von Lesegesellschaften (einer frühen Institutionalform der Selbstbildung) nahm im Zuge der ökonomischen und sozialen Modernisierung die Zugänglichkeit gedruckter Medien rasant zu und veränderte die Lesegewohnheiten breiter Bevölkerungskreise. Rezipiert wurde nicht mehr nur religiöse, sondern auch weltliche Literatur, die dem „Nutzen und Vergnügen“ im häuslichen und beruflichen Alltag dienen, eine sittlich-moralische Lebensführung stärken sowie den geistigen Horizont und das Wissen über politische, soziale und kulturelle Zusammenhänge erweitern sollte. Zudem wurde Bildung mit Geselligkeit verknüpft. Beispielhaft hierfür sind Museums- und Harmonievereine und die seit Ende des 18. Jh. nach französischem Vorbild entstehenden Salons geistreicher, gebildeter Frauen (z. B. Rahel Varnhagen und Henriette Herz in Berlin, Caroline Schlegel in Jena, Johanna Schopenhauer in Weimar). Diese Frauen können als Vorläuferinnen der heutigen Moderatorinnen in den Medien betrachtet werden und die von ihnen inszenierten Gesprächsrunden als Vorformen einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Die sog. Patriotischen Gesellschaften verbanden bildende Geselligkeit mit Bestrebungen zur praktischen Verbesserung der Lebensverhältnisse in ihren Stadtgemeinden, wobei „patrio­tisch“ gleichbedeutend war mit gemeinnützig.

Der aufklärerische Anspruch, das gesamte Leben an der Vernunft zu orientieren, konnte nur auf dem Wege der Wissenschaft, der Forschung und Gelehrsamkeit und der Verbreitung von Bildung – namentlich der E. – eingelöst werden. Dem dienten sich rasch entwickelnde Literaturformen wie Periodika und enzyklopädische Werke. Neben dem wissenschaftlichen Schrifttum entstanden neue Gattungen der bildenden Belehrung und Unterhaltung auf unterschiedlichen Niveaustufen, wobei die zeitweise sehr erfolgreichen Moralischen Wochenschriften in besonderem Maß dem Publikum entgegenkamen und dessen Rezeptionsweisen formten. Die Moralischen Wochenschriften wirkten als Forum der Meinungsbildung: In inszenierten Debatten stellten sie problematisierende Beiträge von (zumeist anonymen) Autoren vor, die durch (v. a. fiktive) Dilemmasituationen zur Urteilsbildung beitragen oder mit einer Vielfalt an vorgestellten Meinungen über unterschiedliche Lebenskreise und -auffassungen informieren und die Toleranz fördern wollten. Hierin zeigt sich eine gewisse Didaktik der Urteils- und Geschmacksbildung in unterhaltsamem Gewand.

Sollte die Idee der Aufklärung zu einer allgemeinen werden, musste dem Gedanken einer naturgemäßen Freiheit und Gleichheit unter den Menschen Geltung verschafft werden. Die E. in Deutschland im späten 18. Jh. war von diesen Ideen zwar inspiriert, sah sich aber durch die Schranken der ständischen Gesellschaft immer wieder entscheidend begrenzt. Von einer politischen Anwendung der Aufklärungsideen, wie sie sich u. a. in der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika und in der Französischen Revolution manifestierten, war sie im Allgemeinen weit entfernt.

Zu unterscheiden sind die Selbstbildungsaktivitäten der kulturellen Eliten (z. B. Salons, Freimaurergesellschaften, Illuminatenorden) von Bestrebungen zur „Volksaufklärung“, die eine Fülle eigener Medien hervorbrachten (z. B. Kalender für häusliche Dienstboten, Handwerker oder Bauern, mit nützlichen Informationen für Landwirtschaft, Haushalts- und Lebensführung und unterhaltsamen und erbaulichen Geschichten oder Ratgeberbücher, wie das von Rudolf Zacharias Becker verfasste „Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute“ von 1788). Diese Schriften, oft auch bebildert und sogar koloriert, bedienten sich eines eingängigen Stils und der Veranschaulichung der Lehre durch Fallgeschichten, um die Adressatinnen und Adressaten wirkungsvoller zu erreichen.

Seit dem Beginn der Volksaufklärung gibt es bereits Versuche einer theoretischen Durchdringung der E., z. B. mit Bezug zur landwirtschaftlichen Fortbildung von Philipp Ernst Lüders (1769), zur politischen Bildung von Heinrich Stephani (1797) oder allgemein mittels einer Theorie der Popularität von Johann Christoph Greiling (1805).

Mit dem Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft kann erstmals in Ansätzen von E. als einer „Bewegung“ gesprochen werden. Der mit der Industrialisierung verbundene soziale Wandel brachte neue Bildungsbedürfnisse hervor und führte in der ersten Hälfte des 19. Jh. dazu, dass Arbeiter und Handwerker als Akteure und Adressaten der E. eigene Bildungsvereine gründeten, nicht nur mit einer beruflich-fachlichen, sondern, damit verbunden, oft auch einer sozialen und politischen Zielsetzung (Arbeiterbildung). Diese Vereine wurden später zum Ausgangspunkt für die Entstehung der Arbeiterbewegung. Die Zeit des sog. Vormärz (etwa von 1815 bis zur Revolution von 1848) war durch frühliberale Ideen (ab 1830), vielfältige Publikations- und Bildungsaktivitäten und die weitere Entwicklung des Vereinswesens geprägt. Im Zuge der Niederschlagung der Revolution wurden nach 1848 viele dieser Vereine verboten; zugelassen waren nur noch solche, die sich unpolitisch gaben, wie die Mitte des 19. Jh. aus den evangelischen „Jünglingsvereinen“ entstehende Bildungsinitiative der „Inneren Mission“ von Johann Hinrich Wichern oder die katholischen „Gesellenvereine“ von Adolph Kolping. Die politische Entspannung ab den 1860er Jahren ließ zahlreiche neue sozialistische und bürgerlich-liberale Arbeiterbildungsvereine entstehen. Ab ca. 1865 formierte sich auch die erste deutsche Frauenbewegung, zu deren wichtigsten Zielen bessere Bildungsmöglichkeiten im gesamten weiblichen Lebenslauf gehörten.

Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 nahm die Ausdifferenzierung von Organisationen und Institutionen der E. deutlich zu (Institutionalisierung). Hervorzuheben ist die Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung (GVV), die mit großem Geschick von Johannes Tews geleitet wurde, einem Volksschullehrer und unermüdlichen liberalen Verfechter des Rechts auf Bildung und der Einheitsschule. Die GVV bildete auf nationaler Ebene einen Dachverband, der 1913 mehr als 8.400 Bildungsvereine umfasste, wobei weder die Vereine der katholischen E. noch die der sozialistischen E. eingeschlossen waren. Durch diese größte Bildungsorganisation der Zeit wurden zum ersten Mal Volksbildungsinteressen in der politischen Öffentlichkeit repräsentiert. Der auf Flächendeckung und Breitenwirksamkeit gerichtete Ansatz zeigte sich u. a. in der Organisation eines weitgespannten ambulanten Vortragswesens, verbunden mit vielfältigen kulturellen Darbietungen. Eines der Verdienste der GVV liegt in der systematischen Gründung von Volksbibliotheken, in enger Verbindung mit der ab den 1890er Jahren entstehenden, von Großbritannien und den USA inspirierten Bücherhallenbewegung (Bibliotheken). Mit der Zeitschrift Der Bildungsverein trug die hauptberuflich geleitete GVV zur Professionalisierung der praktischen E. bei.

In einer um die Jahrhundertwende einsetzenden, energiegeladenen didaktischen Debatte, initiiert von kulturkritischen Reformern der sog. Neuen Richtung, wurde der liberale Ansatz der GVV als „Alte Richtung“ etikettiert und als „extensiv“, überholt und kulturkonservativ bewertet. Die Reformer (z. B. Robert von Erdberg, Walter Hofmann) strebten dagegen nach intensiver, kulturerneuernder Bildung als Medium der Kulturgestaltung („kulturgestaltend“ vs. „kulturverbreitend“).

Während es einzelne Initiativen einer Popularisierung von Wissenschaft bereits in der ersten Hälfte des 19. Jh. gab (v. a. die öffentlichen Vorträge Alexander von Humboldts 1827/28 und der 1841 von Friedrich von Raumer gegründete Verein für wissenschaftliche Vorträge), engagierten sich ab dem ausgehenden 19. Jh. verstärkt Universitätslehrer für die E. Angeregt durch das Vorbild der britischen University Extension veranstalteten sie „volkstümliche Hochschulkurse“ und verbanden dabei extensive und intensive Methoden (Vortragsreihen, Seminare und z. T. Ferienkurse) sowie allgemeine und beruflich relevante Bildung miteinander. Wissenschaft, v. a. Naturwissenschaften und Technik, für ein Laienpublikum zugänglich zu machen, war auch das Ziel der weit verbreiteten Sternwarten und der Urania-Gesellschaften (z. B. Berliner Urania, gegründet 1888).

Etwa gleichzeitig wurde die Idee der dänischen Volkshochschule (vhs) in Deutschland rezipiert. Die erste derartige Bildungsstätte war die 1906 gegründete Heimvolkshochschule Tingleff in Nordschleswig (heute Dänemark). In ihrem Ursprungsland eine Form der intensiven internatsförmigen E. für die ländliche Bevölkerung wurde sie in Deutschland v. a. in zwei Formen adaptiert: als Heimvolkshochschule auf dem Land (zumeist ausgerichtet auf weltanschaulich und sozial bestimmte Zielgruppen) und als Abendvolkshochschule in der Stadt (gerichtet an alle Bürgerinnen und Bürger, einschließlich der Arbeiterschaft). Die erste große Gründungsphase für beide Formen der vhs war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.

In der Entwicklung der deutschen E. stellte der Erste Weltkrieg einen wichtigen Einschnitt dar. Für viele Menschen waren soziale Ordnung und Kultur des Kaiserreichs zutiefst fragwürdig geworden. Das Bildungsprivileg auf der einen und die kulturelle Unterprivilegierung auf der anderen Seite ließen sich nicht mehr rechtfertigen. Frauen, auch der bürgerlichen Kreise, waren in neuem Maße in das Arbeitsleben involviert und in ihrer Selbstständigkeit gefordert, mit Folgen auch für ihre Ansprüche an Bildung. Bei den Männern war es in der Extremsituation der Schützengräben auch zu Begegnungen zwischen Menschen gekommen, die im Zivilleben durch die Kluft von Rang und Konvention entschieden getrennt waren. Auch daraus entstand neues Denken und brachte Impulse für Kultur- und Gesellschaftskritik, für Reformen und für eine zu erneuernde E. (z. B. Eugen Rosenstock-Huessy, Adolf Reichwein). Nach Ende des Krieges traten verschiedene Zielvorstellungen hervor: die Sicherung des nationalen Zusammenhalts durch kulturelle Teilhabe aller, die Bildung von kompetenten Bürgerinnen und Bürgern für die Demokratie, die Begründung einer neuen Lebensordnung, eines reformierten Lebensstils im Alltag und die wissensmäßige Ausrüstung der Arbeiterklasse für den geistigen Klassenkampf.

Literatur

Böning, H. & Siegert, R. (1990–2016). Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850 (3 Bde.: Bd. I 1990; Bd. II in 2 Teilbänden 2001; Bd. III in 4 Teilbänden 2016). Stuttgart: frommann-holzboog.

Daum, A. W. (1998). Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914. München: Oldenbourg.

Dräger, H. (1979, 1984). Volksbildung in Deutschland im 19. Jahrhundert (2 Bde.). Bd. 1: 1979, Braunschweig: Westermann; Bd. 2: 1984, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Kaiser, A. (Hrsg.). (1989). Gesellige Bildung. Studien und Dokumente zur Bildung Erwachsener im 18. Jahrhundert. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Kleinau, E. & Opitz, C. (Hrsg.). (1996). Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung (2 Bde.). Frankfurt a. M.: Campus.

Meilhammer, E. (2000). Britische Vor-Bilder. Interkulturalität in der Erwachsenenbildung des Deutschen Kaiserreichs 1871 bis 1918. Köln: Böhlau.

Tschopp, S. S. (2004). Popularisierung gelehrten Wissens im 18. Jahrhundert. Institutionen und Medien. In R. van Dülmen & S. Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft (S. 469–489). Köln: Böhlau.

Vogel, N. (1994). Grundtvigs Bedeutung für die deutsche Erwachsenenbildung. Ein Beitrag zur Bildungsgeschichte. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

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