Educational Governance

Herbert Altrichter

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-071

#E. G. ist ein relativ junger Ansatz in der Bildungsforschung, mit dem untersucht wird, wie soziale Ordnung und Leistungen in Bildungssystemen zustande kommen (Altrichter & Maag Merki, 2016). Dazu wird auf ein sozialwissenschaftliches Begriffsinventar zurückgegriffen, das v. a. in der Politikwissenschaft (politikwissenschaftliche Bildungsforschung) und Soziologie zur Analyse von Konstellationen zwischen unterschiedlichen Akteuren aus Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft entwickelt wurde. Der Ansatz ist nicht als umfassende Theorie zu verstehen, sondern als Perspektive oder theoretisches Rahmenkonzept, das mit einigen zentralen Begriffen, die oft aus dem Akteurszentrierten Institutionalismus stammen, die Aufmerksamkeit der Analyse auf bestimmte Phänomene richtet, aber offen für Präzisierungen und Akzentuierungen anderer Theorieansätze bleibt (Langer & Brüsemeister, 2019). Zudem werden mit der E.-G.-Perspektive keine normativen Konzepte wie Good Governance, Neue Steuerung oder New Public Management propagiert, sondern ein primär analytisches Verständnis verfolgt und neue wie alte Formen der Systemkoordination kritisch untersucht.

„Governance“ als sozialwissenschaftlicher Begriff ist eine „Sammelbezeichnung für alle Formen sozialer Handlungskoordination“ (Mayntz, 2009, S. 46). Im Gegensatz zu traditionellen Steuerungsansätzen, die sich v. a. auf Eingriffe hervorgehobener Steuerungsakteure wie die des Staates fokussieren, wird mit der E.-G.-Perspektive der Blick darauf gelenkt, dass Leistungen von Bildungssystemen durch die Koordination einer Vielzahl von Akteuren entstehen, die in interdependenten Abhängigkeiten stehen (System). Zudem werden Bildungssysteme als Mehrebenensysteme angesehen: Auf den verschiedenen Ebenen (z. B. der Makroebene von Bildungspolitik und -verwaltung, der Mesoebene der einzelnen Bildungseinrichtung, der Mikroebene der Lernprozesse) herrschen typischerweise unterschiedliche Handlungslogiken, die sich in potenziell verschiedenen Weltsichten, Werten, Handlungspraktiken, subkulturellen Sprachen usw. niederschlagen. Für die gesamtsystemische Koordination ist daher die Verknüpfung von Governance-Formen der verschiedenen Ebenen, die verschiedene Vermittlungs-, Übersetzungs- und Adaptionsprozesse erfordern, ein beständiges Problem. Besonders augenfällig wird dies bei Reformen: Wenn sich eine bildungspolitische Innovation in veränderten Lernprozessen niederschlagen soll, dann müssen die neuen Reformelemente an den Schnittstellen des Mehrebenensystems verstanden, für den jeweiligen Kontext weitergedacht und konkretisiert sowie in Handlungspraktiken und absichernde Institutionalisierungsformen (Institutionalisierung), die der jeweiligen Ebene entsprechen, übersetzt werden. Folgerichtig wird der Ansatz in der Bildungsforschung aktuell häufig zur Untersuchung der Rezeption, Verarbeitung und Wirkung von Bildungsreformen in Mehrebenensystemen verwendet.

Auch in der Weiterbildungsforschung wurde das Konzept E. G. erst relativ spät aufgegriffen. So hat Josef Schrader ein Theoriemodell der Weiterbildung als Mehrebenensystem zur Diskussion gestellt, in dem die E.-G.-Argumentation aufgenommen wird, und zusammen mit Stefanie Hartz gezeigt, wie sich historische Veränderungen von Steuerungsvorstellungen im Weiterbildungssystem mithilfe von Governance-Begriffen aufschlussreich nachzeichnen und interpretieren lassen (Hartz & Schrader, 2008). Insb. sei die häufig anzutreffende These vom „Steuerungsdefizit in der Weiterbildung“ durch eine „Fixierung auf nationalstaatliches Handeln“ (ebd., S. 9) erklärbar; die E.-G.-Perspektive könne durch ihre Aufmerksamkeit für die Beiträge einer größeren Zahl von Akteuren den Blick für unterschiedliche Konstellationen und Transformationspfade sowie für deren Implikationen für die organisationale Gestaltung der Weiterbildungseinrichtungen und das berufliche Handeln in diesen weiten. Als weiteres Beispiel ist das DFG-finanzierte Forschungsprojekt Governance-Strukturen und pädagogische Leistungsprofile in Organisationen der Weiterbildung (GLOW) (2016 bis 2019) zu nennen, in dessen Rahmen mithilfe des E.-G.-Ansatzes die Handlungskoordination von Institutionen der Weiterbildung mit Akteuren ihrer Umwelt sowie die Folgen auf der Ebene der Programme und des Angebots untersucht wurden.

Literatur

Altrichter, H. & Maag Merki, K. (Hrsg.). (2016). Handbuch Neue Steuerung im Schulsystem (Reihe Educa­tional Governance, Bd. 7, 2. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.

Hartz, S. & Schrader, J. (Hrsg.). (2008). Steuerung und Organisation in der Weiterbildung (Reihe Analysen und Beiträge zur Aus- und Weiterbildung). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Langer, R. & Brüsemeister, T. (Hrsg.). (2019). Handbuch Educational Governance Theorien (Reihe Educa­tional Governance, Bd. 43). Wiesbaden: Springer VS.

Mayntz, R. (2009). Über Governance. Institutionen und Prozesse politischer Regelung (Reihe Schriften aus dem MPI für Gesellschaftsforschung, Bd. 62). Frankfurt a. M.: Campus.

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