Bologna-Prozess

Henning Pätzold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-047

Mit B.-P. wird die politisch gesteuerte Vereinheitlichung des tertiären Bereichs fast aller europäischer Staaten in Richtung eines gemeinsamen europäischen Hochschulraums (European Higher Education Area, EHEA) bezeichnet. Da der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (§ 149 EG-Vertrag) die Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Bildungsbereich explizit verbietet, wird der B.-P. unmittelbar durch zwischenstaatliche Vereinbarungen getragen. Auch wenn die Organisationsstruktur der Europäischen Union (EU) inzwischen in wichtige Bereiche des B.-Prozesses hinein­wirkt (Nuissl, Lattke & Pätzold, 2010), bleibt es ein wesentliches Merkmal, dass sich die Einzelstaaten individuell und freiwillig in den Prozess einordnen.

Begonnen hat der B.-P. mit der sog. Sorbonne-Deklaration, dem Resultat eines Treffens der Bildungsminister von Frankreich, Italien, Großbritannien und Deutschland im Mai 1998. Hier einigte man sich auf das Ziel, das europäische Hochschulsystem zu harmonisieren, u. a. um die Mobilität der Studierenden zu fördern und die gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen zu vereinfachen (Anerkennung – Validierung).

Der Sorbonne-Deklaration folgte ein Jahr später das „Bologna-Forum“, an dem sich die zuständigen Ministerinnen und Minister von 29 europäischen Staaten beteiligten (15 davon waren EU-Mitglieder). In der Erklärung von Bologna verständigte man sich auf drei Hauptziele für den EHEA: internationale Wettbewerbsfähigkeit, Mobilität sowie Beschäftigungsfähigkeit. Diese sollten in sechs Handlungslinien realisiert werden, darunter die Einführung eines vergleichbaren Systems von Hochschulabschlüssen, die Gliederung der Hochschulausbildung in zwei Phasen (später wurde die Promotionsphase ergänzt), ein Leistungspunktesystem und Systeme der Qualitätssicherung. In weiteren Treffen wurden die Handlungslinien immer wieder ergänzt und angepasst sowie weitere Teilnehmerstaaten aufgenommen (inzwischen 48, darunter alle 27 EU-Mitglieder). Ursprünglich war 2010 als Zieljahr für den EHEA anvisiert. Bei der Bilanzierung des Erreichten in den vorausgehenden Jahren wurden jedoch teilweise große Unterschiede zwischen den teilnehmenden Ländern deutlich, und so wurde, nicht zuletzt mit dem Ziel der Konsolidierung, eine Verlängerung des Prozesses bis 2020 vereinbart (Keller, 2019).

Als unerlässliche Kernbestandteile des B.-Prozesses bzw. des EHEA wurden drei Merkmale identifiziert: das dreifach gestaffelte Studienmodell, die Anerkennung von Kompetenzen (Kompetenzerfassung; Kompetenzmessung) und die Qualitätssicherung (Qualität). Von diesen sind die letzten beiden auch in anderen Kontexten der Erwachsenen- und Weiterbildung von besonderer Bedeutung; aber gerade hier stellt man im B.-P. noch weitgehenden Handlungsbedarf fest. Die Anerkennung non-formal und informell erworbener Kompetenzen ist zuletzt durch die wachsenden Flucht- und Migrationsbewegungen (Migration) in Europa in den Fokus gerückt, obwohl sie bereits vorher im B.-P. ein Thema war. Hier ist die Situation in Europa sehr heterogen und insgesamt noch entwicklungsbedürftig; lediglich die Implementierung von nationalen Qualifikationsrahmen, die mit den Abschlüssen des Bologna-Modells abgestimmt sind, ist in den meisten Ländern weit fortgeschritten oder umgesetzt. Der Bereich der Qualitätssicherung ist weiterhin dynamisch – das heißt auch: ebenfalls heterogen. Im „Bologna Implementation Report“ (European Commission, EACEA & Eurydice, 2018) wird hierzu u. a. konstatiert, dass bisher summative Verfahren dominierten, während entwicklungsorientierte (formative) Systeme vielfach noch ein Desiderat darstellten (Evaluation).

Der B.-P. ist ein herausragendes Beispiel für internationale Kooperationen (Netzwerke – Kooperationen) im Bereich der Bildungssystementwicklung, aber auch für die unterschiedlichen Dynamiken, die sich hier entfalten – gespeist von verschiedenen Stake­holder-Interessen, Traditionen und Entwicklungszielen. Seine Auswirkungen auf die Hochschulbildung im Besonderen und die Erwachsenenbildung insgesamt sind bereits jetzt ein Stück europäischer Bildungssystemgeschichte.

Literatur

European Commission, EACEA & Eurydice. (2018). The European higher education area in 2018: Bologna process implementation report. Luxemburg (LU): Publications Office of the EU.

Keller, A. (2019). 20 Jahre Bologna-Prozess – und kein Ende? In A. C. Blättler & F.-D. Imhof (Hrsg.), Bologna emeritus? 20 Jahre hochschulpolitische Integration Europas – Analyse und Kritik (Reihe GEW-Materialien aus Hochschule und Forschung, Bd. 125). Bielefeld: wbv Publikation.

Nuissl, E., Lattke, S. & Pätzold, H. (2010). Europäische Perspektiven in der Erwachsenenbildung (Reihe Studientexte für Erwachsenenbildung, Bd. 12). Bielefeld: W. Bertelsmann.

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