Biografisches Lernen

Peter Alheit & Bettina Dausien

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-046

B. L. ist nicht identisch mit dem semantisch überladenen Konzept des Lebenslangen Lernens (lifelong learning). Der Begriff „lebenslanges Lernen“ bezieht sich i. d. R. auf institutionelle Strategien und bildungspolitische Steuerungsperspektiven (Alheit, 2009). Der Bezug auf die Biografie nimmt die lebensweltliche Sicht der Subjekte ernst und führt zu der grundsätzlichen Frage, wie Bildung als biografischer, gegenüber Lebensläufen und Curricula relativ autonomer Prozess gefasst werden kann (Alheit, 2021). Bildung findet nicht nur in organisierter und institutionalisierter Form statt, sondern schließt die Gestaltung von alltäglichen (Alltag) und lebensgeschichtlichen Erfahrungen, Übergängen und Krisen ein. Lebensgeschichtliches Lernen ist also immer an den Kontext einer konkreten Biografie gebunden. Andererseits ist es aber auch die Voraussetzung oder das Medium, in dem sich biografische Konstruktionen überhaupt als reflexive Erfahrungsgestalt herausbilden und verändern können. Ohne Biografie gibt es kein Lernen, ohne Lernen keine Biografie (Dausien, 2008). Diese allgemeine Feststellung verlangt allerdings nach Differenzierungen.

Implizites Lernen, Reflexion und präreflexives Wissen: Viele Lernprozesse laufen implizit ab und formieren sich zu Erfahrungsmustern und Handlungsdispositionen, ohne dass diese in jedem Fall explizit reflektiert werden. Begriffe wie „implizites Lernen“ oder „mitlaufendes Lernen“ heben diesen Aspekt hervor, sagen aber nichts über die Komplexität dieses Phänomens in der Dialektik von Weltaneignung und Selbstbildung. Durch implizite Lernprozesse, die sich vom Beginn des Lebens an ebenso innerhalb wie außerhalb von Institutionen abspielen, werden nicht nur einzelne Erfahrungselemente als Bestandteile der sozialen Welt angeeignet, sondern auch das „Aneignungssystem“ selbst entwickelt (Habitus). Es geht also um die Herausbildung übergeordneter, generativer Handlungs- und Wissensstrukturen, die je nach theoretischer Vorliebe als Erwerb und Aufbau biografischer „Lerndispositionen“ (John Field), „kognitiver Strukturen“ (Jean Piaget), „emotionaler Orientierungssysteme“ (Wilhelm Mader), „Habitusformationen“ (Pierre Bourdieu) oder Konstruktion von „Selbst- und Weltreferenzen“ (Winfried Marotzki) interpretiert werden können. Alle diese Erfahrungsprozesse bilden den biografischen Wissensvorrat einer Person (Alheit & Hoerning, 1989), der wie eine Landschaft aus verschiedenen Schichten und Regionen abgestufter Nähe und Ferne besteht und sich in der Zeit (durch Lernen) verändert. Im alltäglichen Handeln (und auch in ausdrücklichen Lernsituationen) fokussieren wir ein „Problem“ – also nur einen Ausschnitt unseres Wissens, Erlebens und Handelns – und greifen dabei gleichzeitig auf große Teile unseres Wissens (und Nicht-Wissens) selbstverständlich und unhinterfragt zurück. Wir „bewegen“ uns in unserer biografisch gewachsenen Wissenslandschaft, ohne dabei jeden einzelnen Schritt, jede Wegbiegung und jedes Wegzeichen bewusst zu bedenken. Oft wenden wir uns solchen Elementen unseres biografischen „Hintergrundwissens“ erst dann zu, wenn wir ins Stolpern geraten, an eine Kreuzung gelangt sind oder sogar das Gefühl haben, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wir haben – prinzipiell – die Möglichkeit, uns große Teile dieses präreflexiven Wissens zu vergegenwärtigen, es explizit zu bearbeiten und unter Umständen auch Strukturen der ganzen Landschaft zu verändern. Solche reflexiven Prozesse können als Momente von „Selbst-Bildung“ interpretiert werden (Alheit & Dausien, 2000b).

Sozialität biografischen Lernens: Reflexive Lernprozesse finden jedoch nicht nur „im“ Individuum statt, sondern sind auf die Interaktion und Kommunikation mit anderen bzw. die Beziehung auf einen sozialen Kontext angewiesen. B. L. ist eingebunden in Lebenswelten, die unter bestimmten Bedingungen auch als „Lernumwelten“ oder „Lernmilieus“ analysiert werden können. „Erfahrungsorientiertes, lebensweltliches Lernen“ oder „Lernen in Kontexten“ sind Begriffe, die diesem Aspekt des biografischen Lernens Rechnung tragen, ebenso wie die erhöhte Aufmerksamkeit für die Einbeziehung und Gestaltung von Lernumwelten. Hier sind allerdings zwei Tendenzen beobachtbar, die auf der Basis einer biografischen Analyse von Bildungsprozessen kritisch beurteilt werden müssen: eine (begrüßte oder befürchtete) „antiinstitutionelle“ Interpretation des biografischen Lernens (z. B. Ekkehard Nuissl), die übersieht, dass Biografie und Institutionen aufeinander bezogen sind, und die technologische Idee der trivialen Machbarkeit von Lernumwelten. Diese Idee übersieht, dass Lernwelten eingebettet sind in historisch gewachsene, interaktiv und biografisch hergestellte Lebenswelten, die in (pädagogisch angeleitete) Bildungsprozesse einbezogen und mitgestaltet, aber nicht künstlich erzeugt oder gesteuert werden können.

Individualität und „Eigensinn“ biografischen Lernens: Lebensgeschichtliches Lernen ist also einerseits interaktiv und sozial strukturiert, folgt andererseits aber einer individuellen Logik, die durch die besondere, biografisch aufgeschichtete Erfahrungsstruktur erzeugt wird (Sozialisation). Die biografische Struktur determiniert nicht den Lernprozess, denn sie ist eine offene Struktur, die neue Erfahrungen im Umgang mit der Welt, mit anderen und sich selbst integrieren muss. Andererseits bestimmt sie aber wesentlich die Art und Weise, wie neue Erfahrungen gebildet und in einen biografischen Lernprozess in­te­griert werden (Alheit & Dausien, 2000a). Auch hier müssen aktuelle Begriffe wie „selbstorganisiertes“, „selbstbestimmtes“, „selbstgesteuertes“ oder „selbst-direktives Lernen“ (Gerald A. Straka) kritisch diskutiert werden (Selbstorganisation – Selbststeuerung –
Selbstlernen
). Sie unterstellen allzu häufig eine autonom lernende Person (Autonomie), die ihren eigenen Bildungsprozess reflexiv und strategisch bewältigt. Dieses Modell übersieht die Vielschichtigkeit biografischer Reflexivität. Biografische Bildungsprozesse verlaufen auf eigenwillige Weise; sie ermöglichen unerwartete Erfahrungen und überraschende Transformationen, die oft von der lernenden Person selbst nicht vorhergesehen waren oder erst ex post verstanden werden, aber dennoch eine eigene Richtung verfolgen. Hier sind Begriffe wie „Suchbewegung“ oder „diffuse Zielgerichtetheit“ (­Jochen Kade) angemessener als das kybernetische Modell einer zielgerichteten Selbststeuerung, das wiederum an institutionalisierten Vorgaben (z. B. des Wissenserwerbs) orientiert ist. Ein biografisches Verständnis von „Selbstbestimmung“ müsste theoretisch eher mit Bezug auf den Bildungs- als auf den Lernbegriff entwickelt werden. Für eine bildungspraktische (und auch institutionelle) Unterstützung der biografischen Organisation von Lernprozessen sind Reflexions- und Kommunikationsräume sowie die interaktive Auseinandersetzung mit Möglichkeitsräumen (Raum) mindestens ebenso wichtig wie die Entwicklung individueller Steuerungsinstrumente.

Bildung als Formation sozialer Verhältnisse: Biografische Bildungsprozesse sind nicht nur als Aneignungs- und Konstruktionsleistungen im Blick auf die individuell-reflexive Organisation von Erfahrung, Wissen und Können zu verstehen. Sie beinhalten auch den Aspekt der biografischen Bildung von sozialen Netzen und Prozessen, von kollektivem Wissen und kollektiver Praxis, was theoretisch auch als Institutionalisierung (z. B. Peter Berger & Thomas Luckmann), als Bildung von „sozialem Kapital“ oder als Herausbildung „kultureller Praktiken“ verstanden werden kann (als empirische Beispiele können die Bildung kultureller und sozialer Zentren, Vereine und Stadtteilinitiativen angeführt werden; Alheit & Dausien, 2000b). Auch für diese kollektiven Formationsprozesse gilt, dass sie nur zu Teilen explizit verhandelt und reflexiv geplant werden. Selbst aus der unkoordinierten biografischen Bildungspraxis der Individuen entwickeln sich soziale Formationen, z. B. neue Modelle und Erfahrungszusammenhänge für mögliche Bildungswege, für mögliche Frauen- und Männerbiografien, für Geschlechterverhältnisse (Gender in der Erwachsenenbildung), für Lernprozesse und Interaktionsformen zwischen Kulturen (interkulturelle Erwachsenenbildung) und Generationen (intergenerationelle Bildung).

Bei der Betrachtung biografischen Lernens wird deutlich, dass in dieser Analyse­per­spek­tive nicht nur individuelle Prozesse thematisiert werden, sondern unterschiedliche Ebenen zusammentreffen und unter Umständen Diskrepanzen erzeugen, die von den Subjekten biografisch verarbeitet und pragmatisch bewältigt werden müssen: Zum einen evoziert die Programmatik biografischen Lernens also neue Erwartungs- und Deutungsmuster, die subjektiv als belastender Zwang, aber auch als biografische Chance erlebt werden können. Zum anderen sind biografische Lernprozesse und Lebensentwürfe auf institutionelle Strukturen und lebensweltliche Kontexte angewiesen, die individuell und kollektiv selbstbestimmte Bildungsprozesse unterstützen oder behindern können. Schließlich stehen aus der Sicht der Subjekte Anspruch und Realität nicht nur im Widerspruch – beide Ebenen sind biografisch real und müssen individuell bearbeitet und in einem tatsächlich lebenslangen Prozess biografischer Konstruktion und Rekonstruktion immer wieder neu in die eigene Bildungsgeschichte integriert werden. Um diese Prozesse allerdings theoretisch genauer zu fassen, empirisch differenzierter zu analysieren und auf dieser Basis Ansätze für mögliche Bildungspraxen zu entwerfen, sind weitere empirische Forschungen dringend notwendig.

Literatur

Alheit, P. (2009). Biographical learning – within the new lifelong learning discourse. In K. Illeries (Ed.), Contemporary learning theories. Learning theorists in their own words (pp. 116–128). London (GB): Routledge.

Alheit, P. (2021). „Biographisches Lernen“ reloaded. Argumente für die Wiederentdeckung einer zentralen Bildungsressource. Zeitschrift für Sozialpädagogik, 19(1), 6–21.

Alheit, P. & Dausien, B. (2000a). Die biografische Konstruktion der Wirklichkeit. Überlegungen zur Biografizität des Sozialen. In E. M. Hoerning (Hrsg.), Biografische Sozialisation (S. 257–283). Stuttgart: Lucius & Lucius.

Alheit, P. & Dausien, B. (2000b). ‚Biograficity‘ as a basic resource of lifelong learning. In P. Alheit et al. (Eds.), Lifelong learning inside and outside schools (vol. 2, pp. 400–422). Roskilde (DK): University of Roskilde Press.

Alheit, P. & Hoerning, E. M. (Hrsg.). (1989). Biografisches Wissen. Beiträge zu einer Theorie lebensgeschichtlicher Erfahrung. Frankfurt a. M.: Campus.

Dausien, B. (2008). Lebenslanges Lernen als Leitlinie für die Bildungspraxis? Überlegungen zur pädagogischen Konstruktion von Lernen aus biographietheoretischer Sicht. In H. Herzberg (Hrsg.), Lebenslanges Lernen. Theoretische Perspektiven und empirische Befunde im Kontext der Erwachsenenbildung (S. 151–174). Frankfurt a. M.: Peter Lang.

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