Bildungssoziologie

Hans-Peter Blossfeld & Gwendolin J. Blossfeld

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-043

Die B. hat sich seit den 1950er Jahren zu einer eigenständigen Teildisziplin im Fach Soziologie entwickelt. Anfänglich hat sie sich v. a. auf empirische Untersuchungen in der Schule konzentriert. Seit den 1960er Jahren ist dabei immer mehr die Frage in den Mittelpunkt getreten, wie sich die soziale Ungleichheit im Bildungssystem reproduziert (Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung) und durch Reformen des Bildungswesens (Bildungsreformen) die Chancengleichheit erhöht werden kann. Mit der Lebensverlaufsforschung hat die B. die sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, unter denen sich Bildungs-, Ausbildungs- und Lernprozesse über die gesamte Lebensspanne vollziehen (lifelong learning), allgemeiner in den Blick genommen. Ziel der (empirischen) B. ist es heute, Bildungsprozesse und ihre Institutionalisierung im gesellschaftlichen Kontext vom Kleinkind bis zum älteren Erwachsenen zu beschreiben und zu erklären (Becker, 2011).

Im Anschluss an die internationalen, querschnittlichen Schulleistungsstudien (z. B. Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung, IGLU; Trends in International Mathematics and Science Study, TIMSS; Programme for International Student Assessment, PISA) haben sich in der Bildungsforschung Längsschnittstudien zunehmend durchgesetzt, die die Kompetenzen, Bildungsentscheidungen und Lernumwelten im Lebenslauf detailliert erheben (z. B. Nationales Bildungspanel, NEPS). Insgesamt hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten die nationale und internationale Datenbasis für die B. deutlich verbessert. Die Studien haben nicht nur empirische Nachweise für ein großes Ausmaß an Bildungsungleichheiten im Lebenslauf geliefert, sondern die politische Aufmerksamkeit immer mehr auf Fragen der Qualität und Gleichheit von Bildung und Ausbildung gerichtet.

Die Erhebungen zu Kompetenzen von Erwachsenen in den internationalen Studien zur Untersuchung von Alltagsfertigkeiten Erwachsener (Programme for the International Assessment of Adult Competencies, PIAAC) weisen zunächst nicht nur auf große Unterschiede hinsichtlich des Qualifikationsniveaus der erwachsenen Bevölkerung verschiedener Länder hin, sondern auch auf die Art und Weise, wie Kompetenzen im Laufe des Lebens verbessert und aufrechterhalten werden. Die Struktur der Weiterbildung unterscheidet sich in den verschiedenen Ländern nach der Aufteilung der Verantwortung für die Finanzierung und Organisation der Erwachsenenbildung auf drei Hauptakteure: den Staat, den Markt (einschließlich Arbeitgeber) und die Individuen. Die staatliche Weiterbildungsförderung ist wichtig, da es in diesem Bereich häufig zu einem Marktversagen kommt, bei dem Einzelpersonen und Unternehmen nicht in einem sozial optimalen Umfang in Bildungsmaßnahmen investieren (öffentliche Verantwortung). Weiterbildungsprogramme im Rahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik werden am häufigsten in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten eingesetzt (Gøsta Esping-Andersen), um eine hohe Erwerbsbeteiligung aller Altersgruppen zu erreichen. In den liberalen Wohlfahrtsstaaten, wie im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten, wird die Erwachsenenbildung häufig dem Markt überlassen. In Deutschland greift der konservative Wohlfahrtsstaat auch teilweise in die Regulierungen des Weiterbildungsmarkts ein, indem er die gesetzlichen und vertraglichen Rechte der Arbeitnehmerinnen und -nehmer auf bezahlte Weiterbildung stärkt und die finanzielle Förderung von Weiterbildung unterstützt.

Personen, die das Bildungssystem nach ihrer Erstausbildung verlassen haben, stellen den größten Teil der Bevölkerung dar. Die Förderung der Berufsbildung und der politischen Bildung dieser Erwachsenen war deswegen schon immer ein bedeutsames Thema in der B. Weiterbildung hat aber aufgrund der raschen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Zuge der Globalisierung (sozialer Wandel) und des demografischen Wandels der Gesellschaft in den letzten drei Jahrzehnten noch einmal an Bedeutung gewonnen.

Eine wichtige Folge des Globalisierungsprozesses ist die zunehmende internationale Arbeitsteilung, die zu einem beschleunigten berufsstrukturellen Wandel, zu einer Abnahme und Transformation älterer Industrien und zur Schaffung neuer Produktions- und Dienstleistungssektoren führt (Blossfeld, Buchholz & Hofäcker, 2006). Dabei ist nicht nur die Zahl der Arbeitsplätze mit geringen Qualifikationsanforderungen aufgrund technologischer Innovationen stark zurückgegangen, sodass Personen mit niedrigen Qualifikationen mit einem größeren Risiko der Arbeitslosigkeit konfrontiert werden. Vielmehr haben sich auch die beruflichen Mobilitätsprozesse (zwischen Arbeitsplätzen, Unternehmen und Berufen) von qualifizierten und hoch qualifizierten Arbeitskräften deutlich erhöht. Weiterbildung soll sicherstellen, dass Individuen während ihres ganzen Lebens die sich rasch verändernden Anforderungen in ihrem privaten und beruflichen Umfeld bewältigen können.

Die steigende Lebenserwartung und die niedrigen Geburtenraten führen parallel zu einer alternden Bevölkerung, die insb. in Ländern mit früher Verrentung die öffentlichen Haushalte der Wohlfahrtsstaaten zunehmend belasten. Daraus ergeben sich die bildungspolitischen Anliegen, dass ein zunehmender Teil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (v. a. Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit aus familiären Gründen reduziert oder unterbrochen haben, Arbeitslose und Personen mit Migrationshintergrund) durch Investitionen in ihre Beschäftigungsfähigkeit in die Lage versetzt wird, am Erwerbsleben teilzunehmen, und dass ältere Personen bei einer Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters durch eine Anpassung ihrer Kompetenzen länger am Erwerbsleben teilhaben können. Das lebenslange Lernen stellt deswegen heute ein zentrales Thema der B.
dar.

In der B. wird zunächst untersucht, wie die Rückkehr in die formalen Bildungsinstituti­onen (Einrichtungen des zweiten Bildungswegs oder der beruflichen Ausbildung, Fachhochschulen und Universitäten) nach der Erstausbildung vonstattengeht. Die allgemeine Expansion des sekundären und tertiären Bildungssektors hat zunehmend auch ältere Studierende angezogen. Die biografische Entscheidung, in die formalen Bildungsinstitutionen zurückzugehen, hängt v. a. von individuellen Faktoren ab, z. B. Alter, Geschlecht, bisheriger Bildungsabschluss, Familien- und Erwerbsstatus (Regulative der Weiterbildungsbeteiligung). Untersuchungen zeigen, dass die Teilnahme an einer formalen Weiterbildung (Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung) umso wahrscheinlicher ist, je jünger die Erwachsenen sind. Ein wesentliches Hindernis für die Teilnahme sind neben den Eintrittsbarrieren der Zeitaufwand (Zeit) und damit die Opportunitätskosten der Weiterbildung. In der Lebensmitte lassen sich die Rollen des formalen Lernens mit den Rollen des Erwachsenenlebens (z. B. Erwerbstätigkeit, familiäre Verpflichtungen) schwerer vereinbaren, sodass die Rückkehrquote in formale Bildungsmaßnahmen sinkt. Ältere Personen sind wiederum eher in der Lage, sich bspw. an einem Studium zu beteiligen, insb. dann, wenn diese eine Hochschulzugangsberechtigung erworben oder bereits frühere Studienerfahrungen gesammelt haben. Personen mit mittleren Qualifikationen haben im Lebenslauf den größten Anreiz, an formaler Erwachsenenbildung teilzunehmen, um ihre Arbeitsmarkt- und Karrierechancen grundlegend zu verbessern. Dagegen haben Personen ohne Bildungszertifikate (Zertifikate – Abschlüsse) große Schwierigkeiten, sich im Rahmen von formalen Weiterbildungsangeboten fortzubilden. Ihre Beteiligungsquoten sind deswegen sehr gering.

Non-formale Weiterbildung umfasst Lerngelegenheiten von Individuen, die innerhalb von Betrieben stattfinden und vom Arbeitgeber finanziert werden (z. B. Training-on-the-Job, Fortbildungskurse) (betriebliche Weiterbildung) oder bei denen die Teilnahme privat organisiert und ggf. auch privat finanziert wird (z. B. Sprachkurse, berufliche und politische Weiterbildungsseminare). Es handelt sich dabei um Weiterbildungen, die während einer Erwerbstätigkeitsepisode, einer Arbeitslosigkeitsphase, der Wehr- und Zivildienstzeit, einer Elternzeit oder nach der Verrentung stattfinden. Sie haben besonders wichtige Auswirkungen auf die soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft. Einerseits kann die Möglichkeit für Erwachsene, ihr Bildungsniveau durch non-formale Erwachsenenbildung zu verbessern oder ihr Qualifikationsprofil zu ändern, soziale Ungleichheiten verringern, die in der bisherigen Bildungskarriere entstanden sind. Andererseits kann Weiterbildung aber auch bestehende soziale Ungleichheiten im Lebenslauf verstärken, wenn diese überwiegend von bereits gut ausgebildeten Personen in Anspruch genommen werden. Zahlreiche Studien zeigen, dass insb. Personen mit hoher und höherer Bildung häufiger an non-formalen Lernangeboten teilnehmen, v. a. wenn diese vom Arbeitgeber gefördert werden (Blossfeld et al., 2016). Bspw. arbeiten (Hoch-)Qualifizierte oftmals in anspruchsvollen und/oder wissensintensiven Berufen, die eine kontinuierliche Weiterbildung erfordern. Sie haben darüber hinaus in ihrer Bildungskarriere das Lernen gelernt (learning begets learning), sodass ihre non-formale Weiterbildung für Arbeitgeber kostengünstiger ist und höhere Erträge abwirft als bei weniger Qualifizierten. Wenn diejenigen, die ein höheres Bildungsniveau erreicht haben, in der Weiterbildung immer wieder bevorzugt werden, spricht man in der B. von einem „Matthäus-Prinzip“. Die empirischen Ergebnisse lassen erkennen, dass insb. von der durch Arbeitgeber geförderten Weiterbildung Männer in der mittleren Karrierephase profitieren (ebd.). Frauen hingegen, die bereits durch Familie und Erwerbstätigkeit doppelt belastet sind oder ihre Erwerbstätigkeit reduziert bzw. unterbrochen haben, nehmen i. d. R. seltener an durch Arbeitgeber geförderter und häufiger an selbstfinanzierter non-formaler Weiterbildung als Männer teil. Die Weiterbildung ist für Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit unterbrochen haben, besonders wichtig, um wieder an einer Berufskarriere anknüpfen zu können. Studien zeigen, dass auch die staatliche Unterstützung in Bezug auf frühkindliche Bildungs- und Betreuungssysteme die Teilnahme an der Weiterbildung von Frauen mit kleinen Kindern positiv beeinflusst. Durch diese Erkenntnisse wird deutlich, dass die staatliche Bereitstellung von Weiterbildungsmaßnahmen eine wichtige Rolle bei der Verringerung der ungleichen Beteiligungsquoten von Männern und Frauen spielt (Gender in der Erwachsenenbildung).

Insgesamt bieten bildungssoziologische Theorien und ihre empirischen Befunde zum kumulativen Vorteil von Bildungsprozessen im Lebenslauf ein pessimistisches Bild hinsichtlich der Reduktion von sozialer Ungleichheit durch Erwachsenen- und Weiterbildung. Sie zeigen, dass die von Individuen eingeschlagenen Bildungs- und Berufsverläufe relativ stabil sind und dass sich die Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen im Laufe des Lebens eher vergrößern. Optimistisch kann man dagegen hinsichtlich der Geschlechterunterschiede sein, deren Bedeutung sich durch die Erwachsenen- und Weiterbildung verringert hat.

Über die informelle Weiterbildung, d. h. die Lernprozesse, die von den Individuen selbst organisiert werden, ist – abgesehen von den reinen Beteiligungsquoten in unterschiedlichen Bevölkerungssegmenten – in der B. wenig bekannt. Es ist jedoch schwierig, informelles Lernen standardisiert zu untersuchen, da es die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Lernenden in den Vordergrund stellt (Selbstorganisation –
Selbststeuerung – Selbstlernen
). So liegen der B. über die Beteiligungsformen informellen Lernens bislang kaum Daten vor.

Die Erträge von Erwachsenen- und Weiterbildung können vielfältig sein. Sie reichen von monetären Erträgen über Vorteile der Persönlichkeitsbildung, der individuellen Gesundheit bis hin zum zivilgesellschaftlichen Engagement (Schrader, Ioannidou & Blossfeld, 2020). Nach der Humankapitaltheorie (Humankapital) sollten die formale und non-formale Erwachsenenbildung positive Auswirkungen auf das Einkommen, die Prestigemobilität und die Arbeitsplatzsicherheit haben (ebd.). Bei der formalen Weiterbildung, die sich auf Bildungszertifikate stützen kann, ist dieser Zusammenhang i. d. R. relativ klar. Bei der non-formalen Weiterbildung gibt es jedoch ein Selektionsproblem, weil die Arbeitgeber eher in die Ausbildung von Arbeitnehmerinnen und -nehmern investieren, wenn sie diese als produktiver einschätzen. Das bedeutet, dass die positive Korrelation zwischen Erwachsenenbildung und monetären Erträgen der Weiterbildung nicht nur auf die Weiterbildung zurückzuführen ist, sondern sich bereits aus den Merkmalen der Teilnehmenden ergibt. Zukünftige Forschungen in der B. müssen sich diesem Selektionsproblem bei den monetären und nicht-monetären Erträgen intensiver widmen.

Literatur

Becker, R. (Hrsg.). (2011). Lehrbuch der Bildungssoziologie. Wiesbaden: Springer VS.

Blossfeld, H.-P., Buchholz, S. & Hofäcker, D. (Eds.). (2006). Globalization, uncertainty and late careers in society: the losers in a globalizing world. London (GB): Routledge.

Blossfeld, H.-P., Buchholz, S., Skopek, J. & Triventi, M. (Eds.). (2016). Models of secondary education and social inequality: an international comparison (2nd ed.). Cheltenham (GB): Edward Elgar.

Schrader, J., Ioannidou, A. & Blossfeld, H. P. (Hrsg.). (2020). Monetäre und nicht monetäre Erträge von Weiterbildung (Reihe Edition ZfE, Bd. 7). Wiesbaden: Springer VS.

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