Bildungsurlaub

Sabine Schmidt-Lauff

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-044

B. ist ein Sammelbegriff für Formen (gesetzlich geregelter) bezahlter Freistellung von Arbeitnehmenden zur Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung. Es ist kein Urlaub im eigentlichen Sinn, sondern – lt. Gesetz zu dem Übereinkommen Nr. 140 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24.06.1974 über den bezahlten Bildungsurlaub – eine entlastete Zeit, die „einem Arbeitnehmer zu Bildungszwecken für eine bestimmte Dauer während der Arbeitszeit und bei Zahlung angemessener finanzieller Leistungen gewährt wird“. Obwohl sich die Bundesrepublik Deutschland 1976 mit der Ratifizierung dieser Konvention völkerrechtlich dazu verpflichtet hat, besteht bis zum heutigen Tag keine bundeseinheitliche Regelung. Derzeit besitzen 14 von 16 Bundesländern (ohne Bayern und Sachsen) eine gesetzliche Verankerung von B. in Bildungsurlaubs-, Freistellungs- oder Bildungszeitgesetzen.

Hauptregelungsaspekte sind: Dauer der Freistellung (i. d. R. fünf Arbeitstage pro Jahr sowie Kumulation über zwei, z. T. auch mehrere Jahre); Anspruchsberechtigte (z. B. Arbeitnehmende, Beamte, Auszubildende, Studierende an Dualen Hochschulen); Weiterbildungsthemen (politische Bildung, kulturelle Bildung, allgemeine oder berufliche Weiterbildung bis hin zum Lernen fürs Ehrenamt); Mindestumfang bzw. zeitliche Organisation der Veranstaltungen (teilw. als Onlinelernen); Gewährungsregelung bzw. Verfahrenswege; Anerkennungsverfahren für die Träger (Anerkennung – Validierung). Neben vielen diesbezüglichen Gemeinsamkeiten gibt es auch Unterschiede im Detail: formale Faktoren der Nichtanerkennung (z. B. Fristen), Anforderungen an die pädagogische Professionalität der Lehrenden, regionale Bindung der anerkannten Träger von B., Regelungen bei Angeboten im Ausland oder für Sondergruppen als Anspruchsberechtigte (Schmidt-Lauff, 2021).

Die Entstehung von Gesetzen zum B. ist in Deutschland Teil des Aufschwungs während der Bildungsreform von 1965 bis 1975 und hängt eng mit der Neuformierung der Weiterbildung zum quartären Bildungsbereich zusammen. Mit ihrem „Entwurf einer Empfehlung zur Einführung des Bildungsurlaubs“ im Jahr 1973 ging es der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats um die zusätzliche Schaffung von Bildungsangeboten wie auch um die Ausdifferenzierung von Lernformen und -inhalten. Das erste Gesetz zum B. wurde 1970 in Berlin verabschiedet. Dass bis heute Bewegung in den Gesetzgebungen ist, zeigte sich 2015 in Baden-Württemberg mit der Verabschiedung des Bildungszeitgesetzes und 2017 mit einer Initiative im Freistaat Sachsen zur Einführung eines Sächsischen Bildungsfreistellungsgesetzes sowie 2019 mit dem Alleingang der Stadt Dresden in einer Dienstordnung über die Gewährung von B. für die Beschäftigten der Landeshauptstadt.

Da B. mit dem rechtlichen Anspruch der Arbeitnehmenden gegenüber ihren Arbeitgebern in die Arbeitsbeziehung eingreift, handelte es sich von Anfang an um ein Politikum, das mit kontroversen Zielvorstellungen verbunden war. Auseinandersetzungen zum B. werden v. a. hinsichtlich pädagogisch-wissenschaftlicher, strukturell-organisatorischer und politisch-ökonomischer Aspekte geführt. Laut einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (Az.: 9 AZR 381/98) ist heute seitens der Inanspruchnehmenden der Nachweis eines „Mindestnutzens“ für den Arbeitgeber zu erbringen, damit dieser den B. bei entsprechenden Zweifeln (einmal) ablehnen kann.

Bezogen auf spezifische Zielgruppen ging es bei der Einführung von B. insb. um Bildungsbenachteiligte, Bildungsungewohnte bzw. in der Weiterbildung unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen. Tatsächlich wird der B. sowohl von Personen mit hoher Bildungsaffinität genutzt, wie von (bislang) weniger weiterbildungsaktiven Personen. Dass B. positive Wirkungen im Sinne einer Initialzündung, eines Wiedereinstiegs und eines individuellen Langzeiteffekts erzeugt, belegen empirische Studien seit längerem (Kuhlenkamp, 1975; Pabst & Zeuner, 2021; Robak et al., 2015).

Nach der begleitenden Implementierungsstudie Bildungsurlaubs-Versuchs- und Entwicklungsprogramm (BUVEP) der Bundesregierung (Kejcz et al., 1979–1981) wurde die Datenlage über Träger bzw. Anbieter (Weiterbildungsanbieter), Angebotsspektrum (Angebot), Finanzierung bzw. Kosten sowie Inanspruchnahme und Merkmale der Teilnehmenden eher defizitär. Es ist auch auf unterschiedliche Regelungen zur Berichterstattung in den Ländergesetzen zurückzuführen, dass kaum bundesweite Daten zum B. existieren (Schmidt-Lauff, 2021). Auf der individuellen Ebene weisen die Teilnahmezahlen „einer bezahlten Freistellung für Bildungszwecke“ (so zuletzt im AES 2021) immerhin 5,0 Prozent aus. Trotz der bestehenden Rechtsansprüche machen jährlich jedoch nur 0,5 bis 1,5 Prozent der Berechtigten davon Gebrauch (wobei dies den Größenordnungen in anderen europäischen Ländern entspricht). In Deutschland variiert die Quote je Bundesland zwischen 0,1 Prozent (Mecklenburg-Vorpommern) und beinahe 10 Prozent (Bremen). Die geringen Inanspruchnahmen verweisen auf Fragen der Zeitverwendung für Lernen und auf altbekannte Gründe wie Unwissenheit und Informationsmangel oder Missbrauchsvorwürfe vonseiten der Betriebe sowie Angst vor Arbeitsplatzverlust auf Arbeitnehmerseite, aber auch familiäre, migrationsbedingte u. a. Gründe. Dabei schafft das Recht auf Freistellung von der Arbeit zum Zwecke der Weiterbildung unter gemeinsamer Ressourcenaufteilung von Kosten und Zeit eine Ko-Finanzierung (Finanzierung der Weiterbildung) zur Aktivierung lebensbegleitenden Lernens (lifelong learning). Divergierende Bildungsinteressen zwischen Betrieb und Beschäftigten können dabei ausgehandelt und aufgrund der Themenvielfalt austariert werden.

Literatur

Kejcz, Y., Monshausen, K.-H., Nuissl, E., Paatsch, H.-U. & Schenk, P. (1979–1981). Bildungsurlaubs-Versuchs- und Entwicklungsprogramm der Bundesregierung (8 Bde.). Heidelberg: Esprint.

Kuhlenkamp, D. (1975). Bildungsurlaub als Impuls der Weiterbildung. In D. Kuhlenkamp (Hrsg.), Didaktische Modelle für den Bildungsurlaub (S. 13–36). Grafenau: Lexika.

Pabst, A. & Zeuner, C. (Hrsg.). (2021). Fünf Tage sind einfach viel zu wenig – Bildungszeit und Bildungsfreistellung in der Diskussion. Frankfurt a. M.: Wochenschau.

Robak, S., Rippien, H., Heidemann, L. & Pohlmann, C. (Hrsg.). (2015). Bildungsurlaub – Planung, Programm und Partizipation. Frankfurt a. M.: Peter Lang.

Schmidt-Lauff, S. (2021). Betriebliche Weiterbildung: Bildungsurlaub. In P. Krug & E. Nuissl (Hrsg.), Praxishandbuch WeiterbildungsRecht. Fachwissen und Rechtsquellen für das Management von Bildungseinrichtungen (Loseblattwerk, 63. Akt., S. 1–38). Neuwied: Luchterhand.

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