Bildungsreformen

Rudolf Tippelt

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-042

B. können als Umgestaltungsprozesse von Bereichen des Bildungswesens verstanden werden. Sie vollziehen sich in demokratischen Gesellschaften als permanente Prozesse, die eng mit Wirtschaft, Politik und Kultur verflochten sind und sich auf Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen, Berufsbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen – also das System des lebenslangen Lernens (lifelong learning) – beziehen.

Bei B. geht es einerseits um die Steigerung von Effizienz (Wirtschaftlichkeit), das Durchsetzen des Leistungsprinzips und die Behauptung von Ansprüchen an Qualifikation und Qualität, wobei Modernisierungs- (Modernisierung) und Reformprozesse regelmäßig in Widerspruch zu den Privilegien saturierter Bevölkerungsgruppen geraten. Andererseits sind B. seit der Aufklärung mit den Zielen individueller Menschenbildung verknüpft und werden immer stärker im Kontext der Reduktion herkunftsbedingter Disparitäten diskutiert (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2018).

Als zentrale Probleme von B. wurden in den 1960er und 1970er Jahren die Kluft zwischen dem niederen und dem höheren Bildungswesen, die Zementierung sozialer Ungleichheiten durch frühe Selektion sowie die Chancenungleichheit gesehen (Führ & Furck, 1998). Fünf Hauptziele richteten sich auf den Abbau von Ungleichheit im Bildungswesen (Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung), die Demokratisierung im Sinne der Mitwirkung aller am Bildungswesen Beteiligten, die Wissenschaftsorientierung der Curricula, die Humanisierung des pädagogischen Umgangs und die Integration und Inklusion unterschiedlicher Bildungsgruppen.

Im Rückblick werden grundlegende Reformvorstellungen häufig enttäuscht kommentiert. Bspw. bleiben der Erwerb von Kompetenzen und die Bildungsbeteiligung weiterhin eng an die Sozialschichtzugehörigkeit gekoppelt. Auch scheint das Stadt-Land-Gefälle mit Blick auf die demografisch bedingte Zusammenlegung und Schließung von Schulen in ländlichen Regionen (Friedeburg, 1989) und die regionalen Diskrepanzen bei der Förderung digitaler Lernmöglichkeiten wieder problematisch zu werden. Positive Entwicklungen durch B. hingegen wurden bspw. mit der sozialen Öffnung der weiterführenden Bildung, der Erprobung der Integration allgemeiner und beruflicher Bildung (Berufsbildung), der Modernisierung der Lehrpläne, der Gestaltung neuer Medien, der wissenschaftlichen Ausbildung für alle Lehrämter oder auch der Expansion der Weiterbildung und des institutionell gestützten lebenslangen Lernens erreicht.

In den 1980er und 1990er Jahren war parallel zur konjunkturellen Stagnation und zur Reduzierung des Bildungs- und Sozialetats eine Verlagerung der Reformdebatte hin zum Qualitätsmanagement (Qualität) in Hochschulen, Weiterbildungseinrichtungen, ­Schulen und betrieblichen Bildungseinrichtungen festzustellen. Diese machte verschiedene Formen von Evaluation – sowohl des ökonomischen Handelns (Effizienz) als auch der pädagogischen Qualität – populär. Auch die verstärkte Beteiligung an indikatorengestützter, international vergleichender, empirischer Bildungsforschung (international vergleichende Erwachsenenbildungsforschung) wurde zur Grundlage für weitere evidenzbasierte B. Aktuell stehen die Handlungsfelder zur Qualitätssicherung und -entwicklung, der Ausbau schulischer und außerschulischer Ganztagsangebote, die Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz (Literalität – Numeralität) sowie die weitere Professionalisierung der Tätigkeit von Lehrenden im Vordergrund.

Institutionelle B. stehen in den nächsten Jahren allerdings vor schwierigen Herausforderungen: kaum kalkulierbare demografische Schwankungen (demografischer Wandel), Einstellungsänderungen der Klientel aller Bildungseinrichtungen, deutliche bildungsabhängige Verdrängungswettbewerbe beim Übergang vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem (Übergänge im Bildungssystem), Schieflage des international hoch eingeschätzten dualen Ausbildungssystems, starker Ausbaubedarf qualitativ hochwertiger Möglichkeiten des digitalen Lernens, Fortentwicklung eines international offenen Hochschulwesens sowie der Umbau der Weiterbildung zu lebenslangen und stärker selbstregulierten Lernprozessen (Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen) mit Auswirkungen auf alle Ebenen des Bildungswesens u. v. m. Aktuelle Fragestellungen werden somit das innovative Potenzial von Bildungseinrichtungen und die fortschreitende Kompetenz der Lehrenden sowie erneut die Bildungsprozesse über die Lebensspanne sein. Einen breiten Horizont notwendiger B. deuten zudem die europäische Kooperation, die Integration von Migrantinnen und Migranten (Migration), die Verantwortung für das Klima (Nachhaltigkeit), die Offenheit für internationale und universale gesellschaftliche Entwicklungsprozesse (sozialer Wandel) sowie die Toleranz gegenüber anderen und Minoritäten an (Inklusion – Diversität), die aber zur Bewältigung von Krisen im Blick behalten werden müssen (Köller et al., 2019).

Literatur

Autorengruppe Bildungsberichterstattung. (Hrsg.). (2018). Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung. Bielefeld: wbv Publikation.

Friedeburg, L. von (1989). Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Führ, C. & Furck, C. L. (Hrsg.). (1998). Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte (Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart, Teilbd. 1: Bundesrepublik Deutschland). München: C. H. Beck.

Köller, O., Hasselhorn, M., Hesse, F. W., Maaz, K., Schrader, J., Solga, H., Spieß, C. K. & Zimmer, K. (2019). Das Bildungswesen in Deutschland. Bestand und Potenziale. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

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