Bezugswissenschaften

Ekkehard Nuissl

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-032

Unter B. werden diejenigen wissenschaftlichen Disziplinen verstanden, deren Beiträge für die Wissenschaft von der Erwachsenenbildung (Erwachsenenbildung als Wissenschaft; Weiterbildungsforschung) von Bedeutung sind. Da Erwachsenenbildung heutzutage in allen gesellschaftlichen Bereichen stattfindet, vom Anspruch und teilweise auch von der Realität her, sind dies nahezu alle geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, aber auch Naturwissenschaften, namentlich die Neurowissenschaften. Sie werden jeweils auf einschlägige Forschungen hin befragt. Die Relevanz der B. für die Wissenschaft der Erwachsenenbildung hängt jeweils von deren Kontext, Frage- und Problemstellungen ab. Gegenstand der Erwachsenen- und Weiterbildung sind alle gesellschaftlichen Bereiche.

Gelegentlich wird die Wissenschaft von der Erwachsenenbildung als „Querschnittsdisziplin“ bezeichnet und verstanden. Dies ist insofern berechtigt, als dass sie nur in Ausnahmefällen ausschließlich erziehungswissenschaftliche Fragen bearbeitet. Fast immer fließen soziologische Aspekte ein, da die lernenden Erwachsenen in ihrem Umfeld gesehen werden. Die Soziologie (Bildungssoziologie) kann daher als wichtigste der B. verstanden werden (Becker, 2011). Dies gilt sowohl für deren empirische Befunde als auch für deren Theorien, z. B. Ulrich Becks Theorie der Risikogesellschaft, Jürgen Haber­mas´ Theo­rie des kommunikativen Handelns, Niklas Luhmanns Systemtheorie oder die ­neueren Modernisierungstheorien. Von den empirischen Beiträgen der Soziologie spielen bspw. Forschungsergebnisse zu Milieus (Milieuforschung), Generationen, Gender und Migration eine bedeutende Rolle, auch zu Arbeit, Freizeit und Werten, ebenso zu sozialen Beziehungen, Lebensläufen und sozialer Ungleichheit (Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung).

Die Psychologie, insb. die pädagogische Psychologie, hat für die Erwachsenenbildung in den letzten Jahrzehnten wieder an Bedeutung gewonnen (Bildungspsychologie) (Weinert & Mandl, 1997). Grund dafür sind die starken Individualisierungstendenzen (Individualisierung) in der Gesellschaft, aber auch der veränderte Blick auf die Lernenden, deren Selbststeuerung und Profilierung. Genauere und belastbare Erkenntnisse über die Vorgänge des Lernens, über Motive und Interessen (Lernmotivation –
Lerninteresse
) werden immer wichtiger. Dies gilt auch für die Erkenntnisse der Biografieforschung (Biografie), die für die identitätsbildende Funktion der Erwachsenenbildung einschlägig sind (Identität). Ähnliche Anregungen ergeben sich aus den Kognitionswissenschaften (Kognition), der (Neuro-)Biologie und dem Konstruktivismus, die dazu beitragen, den Eigensinn und die Selbstorganisationskräfte lernender Individuen neu zu konfigurieren (Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen).

Zentral unter den B. sind auch die Sprachwissenschaften (Nolda, 1989). Lehren und Lernen finden im Medium der Sprache statt, und nicht nur die Sprachsoziologie liefert hier Beiträge, sondern die gesamte linguistische Forschung. Sie ist heute eingebettet in alle Varianten der Kommunikationsforschung (Interaktion – Kommunikation), der Medienforschung im Zeitalter der Digitalisierung, der Forschungen zu Raum und Zeit als den Konstituenten des Lernens.

Neben diesen besonders für Lehren und Lernen bedeutsamen B. finden sich immer mehr Schnittstellen zu denjenigen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit der in­sti­tu­tionellen und organisatorischen Seite der Erwachsenenbildung befassen. Dazu gehört zuvorderst die Betriebswirtschaft, die Modelle der Kosten- und Leistungsrechnung (Controlling; Wirtschaftlichkeit), der Qualitätsentwicklung und des Qualitätsmanagements (Qualität), der Personalführung und des Managements (Bildungsmanagement; Leitung – Management) liefert. Auch die Regionalforschung als Teil der Raumforschung gewinnt an Bedeutung, denn regionale Netzwerke und Kooperationen sind zunehmend Wirklichkeit von Erwachsenenbildung. Darüber hinaus bezieht die Erwachsenenbildung aus anderen Disziplinen Anregungen, z. B. aus der Ethik und der Erkenntnistheorie. Über die Fachdidaktiken (Fachbereich – Fachdidaktik) ist Erwachsenenbildung schließlich mit vielen weiteren wissenschaftlichen Disziplinen verbunden (Interdisziplinarität).

Die Fülle der B. der Wissenschaft der Erwachsenenbildung enthält ein hohes Anregungs- und Deutungspotenzial, aber auch die Gefahr, diese unkritisch und ohne Ansehen von Erkenntnisinteressen und Forschungsmethoden zu adaptieren. Dies ist dann besonders problematisch, wenn versucht wird, solche übernommenen Erkenntnisse bildungspraktisch anzuwenden, ohne sie den erwachsenenbildnerischen Zielen und Methoden anzupassen, wie dies nicht selten begrifflich, aber auch methodisch-didaktisch zu beob­achten ist.

Literatur

Becker, R. (2011). Lehrbuch der Bildungssoziologie (2. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.

Nolda, S. (Hrsg.). (1989). Sprachwissenschaft als Bezugswissenschaft der Erwachsenenbildung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Nuissl, E. (2006). Vom Lernen zum Lehren. Lern- und Lehrforschung für die Weiterbildung (Reihe DIE spezial, Bd. 2). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Weinert, F. E. & Mandl, H. (Hrsg.). (1997). Psychologie der Erwachsenenbildung. Pädagogische Psychologie (Enzyklopädie der Psychologie, 4. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.

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