Bewusstsein

Rolf Arnold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-031

B. ist bislang kein ausgearbeiteter oder tragender erwachsenenpädagogischer Begriff, obgleich das Wort bereits seit den 1970er Jahren vielfältig verwendet wurde. So gab es Studien und Debatten zum gesellschaftlichen B. in Bezug auf die Erwachsenbildung, und man trifft immer wieder auf Argumentationen, mit denen speziellen Erwachsenenbildungsangeboten eine bewusstseinsbildende Funktion zugeschrieben wird, um z. B. das Umweltbewusstsein (Nachhaltigkeit; Umweltbildung) oder das politische B. einer Zielgruppe (politische Bildung) zu stärken. Schließlich verfolgte auch die von Paolo Freire (1921–1997) begründete Strategie einer Bewusstseinsbildung durch Alphabetisierung eine emanzipatorische Zielrichtung – dem bereits früh von Ludwig Wittgenstein (1989–1951) ausgeloteten Sachverhalt entsprechend, dass die Grenzen unserer Sprache auch die Grenzen unserer Welt seien. Der erwachsenenpädagogische Diskurs griff jedoch bislang nur selten den aktuellen Diskussionsstand der Bewusstseinsphilosophie (Metzinger, 2009), der neueren Bewusstseins- und Erkenntnistheorien oder gar der neurobiologischen Bewusstseinsforschungen (Damásio, 2021; Koch, 2013; Prinz, 2021) auf.

Der Mainstream der erwachsenenpädagogischen Debatte folgte vielmehr dem Aufklärungsversprechen (Aufklärung), demzufolge Vernunft im Sinne einer differenzierten und auf Tatsachen basierenden Erklärung (auch der eigenen Lage in Lebenswelt und Gesellschaft) zur Entdeckung bislang verstellter Handlungsoptionen zu führen versprach. Das „Cogito, ergo sum!“ von René Descartes (1596–1650) führte dabei allerdings zu einer nicht falschen, aber unvollständigen Deutung dessen, was Menschen in ihrer Suchbewegung, sich selbst besser zu verstehen, die Welt zu begreifen und sich zu einer bewussten Lebensgestaltung zu entscheiden, lernend zu erreichen vermochten. Der Akzent lag einseitig auf der Kognition und der Aneignung differenzierterer – gar evidenzbasierter –
Deutungsmuster, also einer Engführung der besonderen Art. Was man lange Zeit übersah, war, dass Menschen ihre Welt bevorzugt so deuten, wie sie diese auszuhalten vermögen (Arnold, 2005), worauf Damásio (2002) mit seinem Ausspruch „Ich fühle, also bin ich!“ hingewiesen hat. Eine Erwachsenenbildung, die diesem geöffneten Blick auf die Gleichzeitigkeit und Verschränkung der kognitiven sowie emotionalen Entwicklung des Erwachsenen folgt (Emotion – emotionale Kompetenz), ist deshalb darum bemüht, das Denken, Fühlen und Handeln der Lernenden in den Lernprozessen zu integrieren. Sie ist durch die Verbindung von drei Modalitäten des Erwachsenenlernens im Sinne einer Bewusstseinsbildung (Selbsterfahrung – Bewusstseinsbildung) gekennzeichnet: Sie ist (1) darum bemüht, Gelegenheiten zu arrangieren, in denen Lernende ihr Weltverständnis durch differenzierte und nüchterne Faktenkenntnis erweitern können (Modus Evidenz­basierung), (2) dabei gleichzeitig auch ihre eigenen – bevorzugten – Formen des Beobachtens, der Aneignung und des Schlussfolgerns reflektieren (Modus Selbstreflexion) und (3) andere, weiterführende Möglichkeiten des Deutens, Schlussfolgerns und Handelns erproben und üben können (Modus Perspektivenerweiterung).

In den letzten Jahren hat sich die Hirnforschung nicht nur verstärkt mit der Frage auseinandergesetzt, wie „ein über sich selbst reflektierendes Bewusstsein“ (Koch, 2013, S. 13) entsteht und was dies für die weitere Entwicklung des Menschen und seine Befähigung zur Gestaltung und Sinnschaffung in seiner Welt bedeutet. Man wurde sich insb. der bereits in der Sprachphilosophie ausgeloteten Selbstgefangenheit in die Sprache bewusster und begann zu begreifen, dass wir letztlich auch in der Bewusstseinsforschung darum bemüht sind, einem Phänomen nachzuspüren, für das die Menschen erst seit dem 16. Jh. einen Begriff haben. Die Frage, inwieweit das, was wir faktisch für gegeben halten, von unseren sprachlichen Möglichkeiten und von den Konnotationen, die mit den genutzten Begriffen einhergehen, konfiguriert wird, während wir das, wofür wir keinen Begriff haben, auch nicht zu begreifen vermögen, stellte das Lernen und die Kompetenz- (Kompetenz) sowie Bewusstseinsentwicklung von Erwachsenen vor neue Fragen.

Gleichzeitig verdichteten sich in den letzten Jahren auch die Hinweise darauf, dass dem emotional Vertrauten in den Selbstbeschreibungen und Lagebeurteilungen der Menschen eine zähe, letztlich synaptisch eingespielte Erregung zugrunde liegt, weshalb vereinzelt – insb. in der systemischen Therapie und Führungskräftebildung – bereits gezielt und mit Erfolg mit dem Versuch gearbeitet wird, durch die Einübung neuer Formen der Bezeichnung und des Sprachgebrauchs auch eine veränderte Form der Konstruktion von Wirklichkeit (Konstruktivismus) Realität werden zu lassen (de Shazer, 2009). Eine solche Veränderung des Bewusstseins ermöglicht so eine Veränderung der gelebten konstruierten Wirklichkeit – eine Zielrichtung, die insb. in der Organisationsentwicklung den Kern der Versuche markiert, eine epistemologische Lern- und Kooperationskultur zu schaffen (Arnold & Schön, 2021).

B. ist auch die grundlegende Kategorie einer im tiefen Sinne spirituellen Bildung (Spiritualität). Diese lässt die „Sprachspiele“ (Ludwig Wittgenstein), auf die die Menschen gelernt haben, sich routiniert einzulassen, hinter sich und tastet nach einem erweiterten Verständnis der eigenen inneren und der äußeren Natur – jenseits der biografisch eingespurten Deutungs- und Emotionsmuster, die uns auch festlegen und zur Wiederholung drängen (Biografie). Ein dadurch entstehendes festgelegtes B. erweist sich in veränderungsdynamischen Lagen von Individuum und Gesellschaft zunehmend als dysfunktional, da die Akteure sich immer wieder vor die Notwendigkeit gestellt sehen, ihrem Denken, Fühlen und Handeln erneuerten Sinn zu stiften und ihre bisherigen Beobachtungen und Beurteilungen zu überwinden, um neuen, weniger begriffsinduzierten Deutungen dessen, was ist, im eigenen Denken, Fühlen und Handeln Raum geben zu lernen. Der Erwachsenenbildung wachsen dabei neue Aufgaben im Sinne der oben beschriebenen drei Modalitäten einer Bewusstseinsbildung zu. Dadurch können Menschen bewusstseinsfähiger werden, indem sie lernen, selbst die Regie dabei zu übernehmen, die Wirklichkeit dazu zu bringen, „in sich selbst zu erscheinen“ (Metzinger, 2009, S. 31) – und dies nicht, wie sie sich uns durch die Begriffsfilter unserer Wahrnehmung zeigt, sondern so, wie sie sein kann, wenn wir uns darin üben, verändert auf uns und die Welt zu blicken.

Literatur

Arnold, R. (2005). Die emotionale Konstruktion der Wirklichkeit. Beiträge zu einer emotionspädagogischen Erwachsenenbildung. Baltmannsweiler: Schneider.

Arnold, R. & Schön, M. (2021). The reflexible person: toward an epistemological learning culture. Journal of Awareness-Based Systems Change, 1(2), 51–71.

Damásio, A. R. (2002). Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins (2. Aufl.). München: List.

Damásio, A. R. (2021). Wie wir denken, wie wir fühlen. Die Ursprünge unseres Bewusstseins. München: Carl Hanser.

de Shazer, S. (2009). Worte waren ursprünglich Zauber. Von der Problemsprache zur Lösungssprache. Heidelberg: Carl-Auer.

Koch, C. (2013). Bewusstsein. Bekenntnisse eines Hirnforschers (a. d. Engl. übers. v. M. Niehaus & J. Wissmann). Heidelberg: Springer Spektrum.

Metzinger, T. (2009). Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik (7. Aufl.). München: Piper.

Prinz, W. (2021). Bewusstsein erklären. Berlin: Suhrkamp.

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