Sabine Schmidt-Lauff & Jörg Schwarz
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-303
Z. ist nicht nur eine Größe zur Beschreibung physikalischer Prozesse (z. B. Bewegungen), sondern auch, ähnlich wie → Raum, eine Kategorie zur Rekonstruktion relationaler Konstituierungsverhältnisse von Sozialität und Individualität. Z. bildet eine zentrale Dimension menschlicher → Erfahrung und sozialer Praxis.
Die antike Philosophie verbindet Z. mit dem Veränderlichen und Prozesshaften (zyklische bzw. lineare Verläufe); als Chronos (Lebenszeit, Vergänglichkeit) und Kairos (Gunst des Augenblicks) wird sie in Mythologien illustriert. In den neuzeitlichen Geistes- und Sozialwissenschaften wird Z. als ontologisches Phänomen subjektiver Erfahrung von Welt und Wahrnehmung des eigenen Seins, aber auch als Element sowie Ergebnis (gemeinschaftlicher) Gestaltung und des Miteinanderlebens behandelt. Dabei spielt die Unterscheidung von Zeitlichkeit als spezifisch menschliches In-der-Welt-Sein (Martin Heidegger: „Da-Sein“) und Zeitmodalität als eine zeitliche Form des „Wie“ der Wahrnehmung, das sich zwischen Vergangenheit, Gegenwärtigsein und Zukunft konstituiert (Edmund Husserl: „Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“), eine wichtige Rolle. Es sind die sich hieraus ableitenden Spannungsfelder zwischen differenten Zeitregimen, „Eigenzeiten“ (Helga Nowotny), Entwicklungszeiten und soziokulturellen Zeittendenzen der Moderne (→ Alltag), die theoretisch und empirisch als konstitutive Momente für die Erwachsenenbildung untersucht werden.
Bildungsprozesse stellen transformatorische Bewegungen in diesen Spannungsfeldern und damit kontingente Ereignisverkettungen im Ablauf der Z. dar. Was als Lernanlass begriffen wird, erfordert Synchronisationsbedarfe zwischen den unterschiedlichen Temporalstrukturen gesellschaftlicher Teilsysteme (Schäffter, 1993). Im Lernen erhält zudem das Erleben von Z. und der Umgang mit ihr spezifische Qualitäten (z. B. zur Ruhe kommen, Anpassungsdruck).
Die Beziehungen zwischen Z. und → Pädagogik im Allgemeinen (Alhadeff-Jones, 2017) sowie zwischen Z. und Erwachsenenbildung im Besonderen sind vielschichtig (Schmidt-Lauff, 2018) und richten sich gegenwärtig auf folgende Themenkomplexe:
- Bildung im Wandel der Z.: → Bildung spiegelt historische Konstruktionen von Z. (→ Aufklärung) und epochale Bestimmungen ihrer Legitimations- und Funktionsbezüge für (lebensbegleitendes) Lernen (→ Modernisierung; Selbstbestimmung) wider.
- Gesellschaftliche Zeitinstitutionen für Lernen: Zeitpolitische Rahmungen, wie Tarif- oder Betriebsvereinbarungen, Lebensarbeitszeitkonten und → Bildungsurlaub, schützen Lerninteressen und Lernchancen durch temporale Formalisierungen gegenüber anderen Alltagsaufgaben des Erwachsenenalters.
- Individuelle Zeitressourcen bzw. Zeitbudgets: Studien v. a. auch der → international vergleichenden Erwachsenenbildungsforschung weisen darauf hin, dass fehlende Z. seit Jahren die zentrale Hürde für eine Nichtteilnahme an (non-)formaler Weiterbildung sowie für informelles Lernen darstellt und schon das Entstehen von Lerninteressen (→ Lernmotivation – Lerninteresse) verhindert sowie → Drop-Out beeinflusst.
- Z. in Organisationen der Erwachsenenbildung: Im Bemühen um → Programmplanung und Angebotsgestaltung (→ Angebot) spielen organisationsbezogene Zeitmuster und die Koordination gemeinsamer Zeitfenster für die (organisierte, (a-)synchrone) Erwachsenenbildung eine maßgebliche Rolle.
- Z. als → Qualität von Lernprozessen: Lernprozesse differieren nach Zeitpunkt, zeitlichem Umfang, Gesamtdauer wie Zeitspannen, nach zeitlicher Intensität, Geschwindigkeit und Rhythmik im Lernprozess sowie entlang unterschiedlicher medialer Formate (virtuelle Verfügbarkeit, Digitalisierung).
- Biografien verweisen auf individuell-subjektive Zeiterfahrungen wie auf objektive Ereignisse: (Auto-)Biografische Texte bilden über Erzählmomente das relationale Prozessieren zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ab. Bildungsbiografien (→ Biografie) sind keine zeitlosen Gestalten, und ihre temporale Rekonstruktion schafft Zugänge zu kollektiven Zeitlichkeiten, zu sozialen Zeitmustern sowie zu individuell subjektiven Zeitmodalisierungen (Erfahrungen von und in der Z.).
- Z. in Lernprozessen: Eine offensichtliche Rolle besitzt Z. in Lernprozessen, zum einen durch Z. als Thema (z. B. Zeit- und Selbstmanagement), zum anderen, weil sich der Lernprozess selbst in der Z. vollzieht, sich einer direkten (zeitlichen) Steuerung jedoch entzieht. Es ist daher eine professionelle Kernaufgabe, im Vermittlungsprozess die Koinzidenz differenter Zeitlogiken zu reflektieren und zu gestalten.
Literatur
Alhadeff-Jones, M. (2017). Time and the rhythms of emancipatory education: rethinking the temporal complexity of self and society. London (GB): Routledge.
Leineweber, C. (2020). Die Verzeitlichung der Bildung: Selbstbestimmung im technisch-medialen Wandel. Bielefeld: transcript.
Schäffter, O. (1993). Die Temporalität von Erwachsenenbildung. Überlegungen zu einer zeittheoretischen Rekonstruktion des Weiterbildungssystems. Zeitschrift für Pädagogik, 39(3), 443–462.
Schmidt-Lauff, S. (2018). Zeittheoretische Implikationen in der Erwachsenenbildung. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., Bd. 1, S. 319–338). Wiesbaden: Springer VS.