Wohlfahrtsstaat

Josef Schmid

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-302

Der Begriff W. – im deutschen Kontext auch „Sozialstaat“ – kennzeichnet eine institutionalisierte Form der sozialen Sicherung, in der ein Existenzminimum für jeden Menschen und ein Schutz vor den elementaren Risiken einer modernen Industriegesellschaft (v. a. Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall, Pflegebedürftigkeit) gewährleistet sowie das Ausmaß an gesellschaftlicher Ungleichheit durch Umverteilung reduziert wird (Gesellschaft). Das Modell des Wohlfahrtsstaats ist charakteristisch für die Systeme der westlichen Länder und bildet dort zusammen mit den Ordnungsprinzipien der Demokratie und des Kapitalismus ein komplexes Gefüge mit wechselseitiger Abhängigkeit und Durchdringung. Gleichwohl existieren markante nationale Unterschiede, was sich in den jeweiligen Niveaus der Sozialausgaben, der Typik der Leistungen und in der Struktur der Systeme zeigt.

Diesen Unterschieden trägt v. a. der Grundgedanke des dänischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen (1990) Rechnung, wonach „drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus“ existieren. Sie stellen idealtypische „Regimetypologien“ mit unterschiedlicher struktureller Ausgestaltung von sozialer Sicherung und Vollbeschäftigung dar, die vom Ausmaß der Anbindung sozialer Sicherung an den Markt (De-Kommodifizierung), den Mustern der sozialen Schichtung und Ungleichheit (Stratifizierung) und der Verteilung gesellschaftlicher Machtressourcen (Mischungsverhältnis des Stellenwerts von Staat, Markt und Familie) determiniert wird. Letzteres begründet eine hohe Kontinuität bzw. Pfadabhängigkeit der Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten.

Auf dieser Basis unterscheidet Esping-Andersen verschiedene Grundmodelle von Wohlfahrtsstaaten, die solche Länder vereinigen, deren Sozialpolitik ähnlich strukturiert ist:

  1. Der Typ liberaler W. (Großbritannien, USA, Australien, Neuseeland) betont die Rolle des freien Markts und der Familie. Soziale Anspruchsrechte sind gering entwickelt und oft mit strengen individuellen Bedürftigkeitsprüfungen verbunden, was zu Stigmatisierung führen kann und soziale Ungleichheit nur wenig bekämpft. Die Finanzierung erfolgt vorwiegend aus dem Staatshaushalt. Interventionen in den Arbeitsmarkt erfolgen – falls überhaupt – v. a. zur Auflösung von Flexibilitätshemmnissen und zur Wahrung des Wettbewerbs.
  2. Der Typ konservativer W. (Frankreich, Italien, Deutschland, Niederlande) interveniert zwar stärker, allerdings eher temporär und aus staatspolitischen Gründen. Er ist sozialversicherungszentriert mit der Folge, dass soziale Rechte stark an den beruflichen Status gebunden sind und die Ansprüche auf Beiträgen aus Lohnarbeit basieren, wodurch Statusunterschiede erhalten bleiben. Privatleistungen haben geringere Bedeutung. Grundlage dieses Modells sind das Normalarbeitsverhältnis und die traditionelle Familienstruktur.
  3. Der Typ sozialdemokratischer W. (Schweden, Norwegen, Dänemark) ist universalistisch ausgerichtet, d. h. Ansprüche und Leistungen basieren auf sozialen Bürgerrechten. Es wird Gleichheit auf hohem Niveau angestrebt, auch bezüglich der Rechte für Arbeitgeber und Arbeitnehmende. Die Finanzierung der sozialen Leistungen erfolgt weitgehend aus dem Staatshaushalt. Zugleich werden diese überwiegend vom öffentlichen Dienst erbracht, der einen großen Umfang einnimmt und somit nicht nur sozialpolitisch, sondern auch arbeitsmarktpolitisch eine Schlüsselfunktion innehat. Die (Voll-)Beschäftigungspolitik ist in diesem Modell stark ausgeprägt.

In der international vergleichenden Erwachsenenbildungsforschung werden solche Typologien von Wohlfahrtsstaaten u. a. dazu genutzt, um die Unterschiede in der sozialen Selektivität der Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung zu erklären – allerdings mit bislang begrenztem Ertrag (Kaufmann, Reichart & Schömann, 2014). Im Allgemeinen werden Fragen, die Bildung und Bildungspolitik (Weiterbildungspolitik) mit Blick auf die wohlfahrtsstaatliche Einbettung diskutieren (Schmid et al., 2016), bislang jedoch kaum systematisch berücksichtigt. Umgekehrt ist in der vergleichenden Politikwissenschaft das Thema Bildung auch erst seit jüngerer Zeit etabliert (politikwissenschaftliche Bildungsforschung).

Der W. blickt auf eine rund 150-jährige Geschichte zurück, die in Deutschland mit der Einführung der Sozialversicherung (1883) durch den Reichskanzler Otto von Bismarck und in verschiedenen europäischen Staaten zur ähnlichen Zeit mit der Errichtung sozialer Sicherungssysteme begann. Im globalen Blick auf das Grundmodell des Wohlfahrtsstaats ist zum einen eine enorme Expansion feststellbar, in deren Folge nahezu die gesamte Weltbevölkerung inkludiert wird. Zum anderen erfolgt eine Differenzierung und Ausweitung der Leistungen in allen Typen des Wohlfahrtsstaats, die durch demografische, soziokulturelle und ökonomische Faktoren getrieben werden.

Trotz aller politischer Debatten über den Um- und Abbau des Wohlfahrtsstaats sind die typischen Merkmale und die Höhe bzw. Stabilität der Leistungen konstant geblieben. In Deutschland verharrte bspw. die Sozialleistungsquote in den letzten zehn Jahren bei 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zu den Herausforderungen im Übergang zur globalisierten postindustriellen Gesellschaft gehören sog. neue soziale Risiken, wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der erhöhte Bedarf an Pflegeleistungen für Kinder und Ältere, die Anpassung von (veralteten) beruflichen Qualifikationen an neue Bedingungen sowie die Absicherung von Personen besonders im Alter, die nicht sozialversicherungspflichtig oder prekär beschäftigt sind. Mit der aktivierenden Sozialpolitik (Hilfe zur Selbsthilfe) und ihrem Gedanken der Sozialinvestition setzt hier eine neue Strategie an, die nicht mehr nur auf monetäre Kompensation, sondern auf Integration in den Arbeitsmarkt baut und die Investition in (Weiter-)Bildung (auch) als Instrument wohlfahrtsstaatlicher Politik betrachtet (staatliche Weiterbildungförderung; Weiterbildungsförderung durch die Bundesagentur für Arbeit). Die Auswirkungen von Umverteilungen des Wohlfahrtsstaats über die (Weiter-)Bildungspolitik sind jedoch wesentlich komplexer als in anderen Bereichen.

Literatur

Esping-Andersen, G. (1990). The three worlds of welfare capitalism. Cambridge (GB): Polity Press.

Kaufmann, K., Reichart, E. & Schömann, K. (2014). Der Beitrag von Wohlfahrtsstaatsregimen und Varianten kapitalistischer Wirtschaftssysteme zur Erklärung von Weiterbildungsteilnahmestrukturen bei Ländervergleichen. Report. Zeitschrift für Weiterbildungsforschung, 37(2), 39–54.

Schmid, J. (2020). Sozialstaat. In socialnet. (Hrsg.), socialnet Lexikon (online). Bonn: socialnet.

Schmid, J. (2010). Wohlfahrtsstaaten im Vergleich: Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme (3. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.

Schmid, J., Amos, K., Schrader, J. & Thiel, A. (Hrsg.). (2016). Welten der Bildung? Vergleichende Analysen von Bildungspolitik und Bildungssystemen. Baden-Baden: Nomos.

Schmidt, M. G., Ostheim, T., Siegel, N. & Zohlnhöfer, R. (Hrsg.). (2007). Der Wohlfahrtsstaat: Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich. Wiesbaden: Springer VS.

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