Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung

Steffen Hillmert

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-277

Mit gesellschaftlicher U. ist mehr als eine reine soziale Differenzierung gemeint; sie bezieht sich auf die ungleiche Verteilung von gesellschaftlich als wertvoll erachteten Gütern, z. B. Bildung. Hiervon zu unterscheiden sind normative Fragen der (Un-)Gerechtigkeit, denn keineswegs gelten alle Ungleichheiten gesellschaftlich als illegitim. Im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung ist das meritokratische Modell, nach welchem begehrte Güter auf Basis individueller Leistung zugeteilt werden sollen, zum dominierenden Legitimationsprinzip geworden („Leistung soll sich lohnen“). Durch die enge Verknüpfung mit dem Arbeitsmarkt übernimmt hierbei das Bildungs- und Ausbildungssystem eine wesentliche gesellschaftliche Selektionsfunktion, indem es den Zugang zu unterschiedlich bewerteten Positionen vorstrukturiert.

Die Konsequenzen von Bildungsprozessen für die Individuen sind deutlich, vielfältig und langfristig. Die individuelle Qualifikation weist einen positiven Zusammenhang mit dem Erwerbseinkommen und einen negativen mit dem Risiko der Arbeitslosigkeit auf; höhere formale Bildung ermöglicht persönliche Besserstellung und sozialen Aufstieg. Auch beeinflusst Bildung die Lebenssituation jenseits des Arbeitsmarkts in vielen Bereichen, z. B. bei der Partnerwahl oder der Gesundheitsvorsorge und der Lebenserwartung. Augenfällig sind auch die Auswirkungen von Bildung auf die soziale Lage von Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter. Gesellschaftliche Bildungsinvestitionen versprechen damit kollektive Produktivitäts- und Wohlfahrtsgewinne. Allerdings spiegelt der individuelle Bildungsnutzen oft auch die relativen Vorteile eines positionalen, kompetitiven Guts wider („Bildungswettlauf“).

Da gerade Bildungserfolge als Ausdruck individueller Leistung gelten, wird es i. d. R. als legitim angesehen, dass Bildungsprozesse in nennenswertem Ausmaß gesellschaftliche U. produzieren. Dies setzt aber jeweils Chancengleichheit beim Bildungszugang sowie den Ausschluss leistungsfremder Kriterien bei der Auslese im Bildungssystem voraus. Empirisch lassen sich indes immer wieder soziale, insb. herkunftsbezogene Gruppenunterschiede bei Bildungschancen finden (soziale Bildungsungleichheit i. e. S.). Der Abbau von gesellschaftlicher U. in Bezug auf Bildung wird fast einstimmig von den politischen Akteuren gefordert. Schon die Bildungsexpansion nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von einer öffentlichen Debatte begleitet, die sich nicht nur um die Rolle von Bildung als volkswirtschaftliche Ressource, sondern auch um Fragen von U. und Gerechtigkeit („Bildung als Bürgerrecht“) drehte.

Um zu erklären, wie es zu gesellschaftlicher U. in der Bildungsbeteiligung kommt, ist es sinnvoll, grundlegende Mechanismen der sozialen Differenzierung zu betrachten. Boudon (1974) unterscheidet konzeptuell zwischen primären und sekundären Effekten sozialer Herkunft:

  1. Auf jeder Stufe des Bildungsverlaufs besteht eine primäre soziale Differenzierung in den jeweiligen Ausgangsbedingungen, also den je nach sozialem Hintergrund typischerweise vorhandenen Leistungen und Kompetenzen. Sie entsteht zunächst außerhalb des Bildungssystems, v. a. in den Herkunftsfamilien, und existiert so bereits vor dem Eintritt in das (vor-)schulische Bildungssystem. Primäre Effekte lassen sich u. a. auf Unterschiede in Erziehungsstilen und Fördermöglichkeiten zurückführen (zur Rolle von Alltagsaktivitäten und kulturellem Kapital: Bourdieu & Passeron, 1971; La­reau, 2003). Während der Schulzeit kommen selektive Interaktionen mit den Bildungsinstitutionen sowie unterschiedliche familiäre Unterstützung und Verfügbarkeit von Lernmitteln hinzu.
  2. Die sekundäre soziale Differenzierung umfasst herkunftsbezogene Unterschiede beim Übergang zur nächsten Stufe, insb. unter Berücksichtigung des individuellen Leistungsniveaus. Bei den sekundären Effekten erweisen sich institutionalisierte Schnittstellen des Bildungswegs als bedeutsam für die Entstehung und Verstetigung von gesellschaftlicher U. Selektive Bildungsentscheidungen gehen auf soziale Unterschiede in den individuellen Entscheidungsgesichtspunkten zurück, wie Kosten- und Nutzenerwartungen, Informationsstand über Bildungswege, individuelle Erfolgserwartungen und verfügbare Zeitressourcen, wobei hier insb. das Motiv intergenerationalen Statuserhalts wirksam wird (Breen & Goldthorpe, 1997). Lebensweltlich spielen Kontaktpersonen im persönlichen Umfeld eine große Rolle.
  3. Über Boudons Unterscheidung hinaus wird zudem eine tertiäre soziale Differenzierung thematisiert. Tertiäre Effekte sind auf sozial selektive institutionelle Praktiken (wie Notengebung und Schulempfehlungen) zurückzuführen. Diesbezüglich unterstreichen Studien aber auch die tendenziell kompensatorische Wirkung (leistungsorientierter) institutioneller Bewertungen.

Das beobachtete Ausmaß von gesellschaftlicher U. in Bezug auf Bildung hängt davon ab, auf welchen Aspekt von Bildung fokussiert wird, z. B. Zugangschancen, Besuchsquoten, Zertifikate und Abschlüsse oder Wissens- und Kompetenzerwerb. Gleiches gilt für die interessierenden sozialen Gruppendimensionen, z. B. Geschlecht, soziale Herkunft, Wohnort, Religion oder Migrationsstatus. Schließlich hängt das Ausmaß auch von den spezifischen Messkonzepten bzw. statistischen Maßen gesellschaftlicher U. ab.

Während in der vormodernen Gesellschaft die Unterscheidung nach dem Vorhandensein oder Fehlen formaler Bildung einen wesentlichen Ausdruck von gesellschaftlicher U. darstellte, wird heute fast die gesamte Bevölkerung, zumindest in bestimmten Lebensphasen, vom Bildungssystem erfasst. Bildungsungleichheiten haben sich so in Richtung quantitativer und qualitativer Unterschiede verlagert. Im Zuge der Bildungsexpansion sind traditionelle gesellschaftliche Ungleichheiten nach Geschlecht, Religion, Region usw. teilweise stark abgebaut worden; doch gilt dies nicht für alle sozial-strukturellen Unterschiede. Der Fokus auf hierarchische Bildungsunterschiede drängt u. a. „horizontale“ Ungleichheiten beruflicher Segregation, die z. B. in Form geschlechtsspezifischer Ausbildungs- und Studienwahl weiterhin sehr präsent sind, in den Hintergrund. Zudem ist die öffentliche Aufmerksamkeit selektiv und „entdeckt“ immer wieder lange bekannte Befunde von gesellschaftlicher U. in Bezug auf Bildung, wie im Zuge der PISA-Diskussion. Herkunftsbezogene Unterschiede beim Bildungszugang haben sich im historischen Vergleich durchaus reduziert, doch sind sie eine zentrale Dimension von gesellschaftlicher U. geblieben, insb. wenn man Sättigungsprozesse im Zuge der Bildungsexpansion in Rechnung stellt. Merkmale wie die ethnische Herkunft bzw. Migrationsgeschichte (Migration) haben an Aufmerksamkeit gewonnen; sie sind allerdings ebenfalls eng mit der sozialen Herkunft verbunden.

Auch viele internationale bildungssoziologische Vergleiche (Bildungssoziologie) beschäftigen sich mit Effekten sozialer Herkunft. Diese sind allerdings nur ein Teilaspekt komparativ beobachtbarer gesellschaftlicher U., und mögliche institutionelle Einflüsse sind wiederum ein Unteraspekt. Für solche Einflüsse finden sich empirische Belege (Pfeffer, 2008), wenngleich beim Vergleich von Gesellschaften bzw. Bildungssystemen nicht die gleichen Gütekriterien kausaler Zurechnung angelegt werden können wie auf Individual- und Gruppenebene. Als relevante Strukturelemente des deutschen Systems mit den dort beobachtbaren relativ hohen Herkunftsabhängigkeiten werden ein erst spät ausgebautes, kostenpflichtiges System der Früherziehung sowie insb. die frühe Selektion in hierarchische Sekundarschulzweige genannt, welche in ihrer traditionellen Differenzierung noch ständische Züge tragen. Die reine Strukturanalyse hat allerdings Grenzen und sieht z. B. von feinen, internen Differenzierungen ab, die es auch in integrierten Schulsystemen gibt. Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhält die gesellschaftliche U., die sich aus der resultierenden Bildungsverteilung an sich (auch ohne mögliche Einflüsse sozialer Herkunft) ergibt.

Wie Lebensverläufe (Lebenslauf) allgemein (Mayer, 2001) unterliegen Bildungsverläufe endogenen Zusammenhängen: Frühere Phasen prägen spätere, und Entwicklungen erfolgen oft pfadartig. Dies lässt sich auf kumulierte individuelle Erfahrungen und Ressourcen, die psychosoziale Entwicklung, aber gerade auch auf institutionalisierte Regelungen zurückführen. Eine Reihe von Studien belegt eine Verringerung der Bedeutung des Familienkontextes bei späteren Übergängen im Bildungssystem. Die zunehmende Selektivität der Bildungsteilnehmenden und die kompensierende Entwicklungen im Lebensverlauf (z. B. wachsende individuelle Erfahrung und Entscheidungsautonomie sowie wiederholte, tendenziell objektivierte (Leistungs-)Rückmeldungen) machen eine abnehmende Bedeutung sozialer Herkunft für die jeweiligen Übergänge plausibel. Für die an einer Stelle des Bildungsverlaufs jeweils insgesamt vorliegende gesellschaftliche U. muss hingegen die soziale Selektivität auf allen vorgelagerten Stufen berücksichtigt werden. Im fortgeschrittenen Lebensalter spielt soziale Herkunft zwar eine eher geringe Rolle, aber frühere Bildungserfahrungen beeinflussen die Wahrscheinlichkeit einer Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung (Hillmert & Rüber, i. V.). Höhere Schulabschlüsse sowie berufliche und v. a. akademische Ausbildungen erweisen sich hierfür als klare Prädiktoren. Insofern ist auch der späte Bildungsverlauf tendenziell kumulativ, wobei die empirische Datenlage diesbezüglich noch ausbaufähig ist.

Als zentraler Mechanismus der Verteilung von Lebenschancen ist Bildung als sozialpolitische Strategie („präventive Sozialpolitik“) in den Fokus gerückt. Die Herstellung sozialer Chancengleichheit bleibt dabei eine dauerhafte – und auf absehbare Zeit kontrafaktische – Herausforderung. Mögliche Maßnahmen orientieren sich an den zugrundeliegenden Mechanismen. Im Hinblick auf primäre soziale Effekte geht es damit um gezielte Förderung bereits auf frühen Bildungsstufen, im Hinblick auf sekundäre Effekte hingegen eher um die Vermeidung von mit großer Unsicherheit behafteten Entscheidungssituationen, Bereitstellung ausgewogener Informationen und leistungsgerechte institutionelle Unterstützung. Im Hinblick auf mögliche tertiäre Effekte könnten z. B. Lehrkräfte stärker für das Problem sozial selektiver Bewertungen sensibilisiert werden.

Allerdings geht es unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen U. im Bildungskontext keineswegs nur um Verstöße gegen meritokratische Prinzipien. Absolute und relative Bildungsarmut erweisen sich als biografisch (Biografie) langfristige Risiken, zumal der gesellschaftliche Mindeststandard im Hinblick auf einen Schul- und Ausbildungsabschluss gestiegen ist. Unabhängig von der Frage anfänglicher Chancengleichheit gilt es damit, gesellschaftliche Teilhabe auch für formal Geringqualifizierte sicherzustellen. Es wird durchaus kontrovers diskutiert, ob und inwieweit im Bildungsbereich, insb. auf frühen Stufen, überhaupt meritokratische Auslese stattfinden sollte. Abgesehen von grundsätzlichen Fragen (z. B. Definition von „Leistung“, Legitimität von Belohnungen für persönliche Anlagen und Begabungen) liegen Probleme aber oftmals eher in der konkreten Ausgestaltung als im formalen Prinzip.

Tendenziell kompensatorische Bezüge zu gesellschaftlicher U. in der Bildungsbeteiligung ergeben sich schließlich aus der sozialen Integrationsfunktion des Bildungssystems. Hierbei geht es um gesellschaftliche Anerkennung (Anerkennung, gesellschaftliche – personale) und Teilhabe aufgrund individueller Tätigkeit und Leistung, aber auch jenseits davon. In den Bereichen von Aus- und Weiterbildung ist das Bildungssystem (Weiterbildungssystem) zudem eng mit dem Arbeitsmarkt verbunden, der für weite Teile der Gesellschaft und über eine lange Phase des Lebensverlaufs die zentrale soziale Integrationsinstanz darstellt. Damit haben Aus- und Weiterbildung eine wichtige Rolle sowohl bei der konkreten (Re-)Qualifizierung als auch bei der Vermittlung grundlegender Werte (Ethik), welche nicht zuletzt die gesellschaftliche Legitimation (moderner Arten) bzw. Delegitimation (traditioneller Arten) von gesellschaftlicher U. betreffen. Angesichts eines raschen technologischen Wandels und Kohorten bzw. ethnischen Gruppen mit teilweise recht unterschiedlichen kulturellen, Bildungs- und Qualifikationsvoraussetzungen kommt dem (Weiter-)Bildungssystem in Zukunft eine Schlüsselposition bei der gesellschaftlichen Integration zu.

Literatur

Boudon, R. (1974). Education, opportunity and social inequality. Changing prospects in Western society. New York (US): John Wiley & Sons.

Bourdieu, P. & Passeron, J.-C. (1971). Die Illusion der Chancengleichheit: Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett.

Breen, R. & Goldthorpe, J. H. (1997). Explaining educational differentials. Towards a formal rational action theory. Rationality and Society, 9(3), 275–305.

Hillmert, S. & Rüber, I. E. (i. V.). Bildung und lebenslanges Lernen. In K. R. Schroeter, C. Vogel & H. Künemund (Hrsg.), Handbuch Soziologie des Alter(n)s (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften). Wiesbaden: Springer VS.

Lareau, A. (2003). Unequal childhoods: class, race, and family life. Berkeley (US): University of California Press.

Mayer, K. U. (2001). Lebensverlauf. In B. Schäfers & W. Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands (S. 446–460). Opladen: Leske + Budrich.

Pfeffer, F. T. (2008). Persistent inequality in educational attainment and its institutional context. European Sociological Review, 24(5), 543–565.

Umweltbildung
United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization