Theorie und Praxis

Ekkehard Nuissl

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-271

Die Disziplin Erziehungswissenschaft hat sich aus dem Praxisfeld Schule entwickelt. Sie diente ursprünglich dazu, die Tätigkeit des Erziehens wissenschaftlich zu unterfüttern und zu verbessern (Siebert, 2011). Zu denjenigen Teilbereichen dieser Disziplin, die sich mit noch jüngeren Tätigkeitsfeldern beschäftigen (z. B. Sozialpädagogik oder Erwachsenenbildung) besteht eine vergleichbare Beziehung bei jeweils eigenständigen Fragen und Problemen. So spielen in der Erwachsenenbildung nicht nur Fragen der Erziehung und Bildung, sondern auch solche der Lebenssituationen (Lebenswelt), der Interessen und Erfahrungen, der Finanzierung, der Passung zu Arbeitsmarktbedarfen und von Angebot und Nachfrage eine wichtige Rolle. Auch Lernfähigkeit und Lernmotivation der Erwachsenen sind von großer Bedeutung. Es handelt sich um ein spezifisches Praxisfeld.

Die Heterogenität dieses Praxisfelds der Erwachsenenbildung legt nahe, dass sich unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen mit diesem beschäftigen (Bezugswissenschaften). Das betrifft sowohl Forschung (in Bezugnahme auf die Soziologie, Psychologie, Ökonomie, Neurologie u. a.) als auch Theoriebildung zur Erklärung des Entstehens und der Zusammenhänge in der P. der Erwachsenenbildung. Da die Erwachsenenbildung in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen verortet und ihr Kern schwer abzugrenzen ist, müssen Wissenschaft und Forschung (T.) mit einer Unschärfe des Felds umgehen. Daraus erwächst eine Dynamik nicht nur der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Feld, sondern auch der Beziehung der einschlägigen Disziplinen untereinander und ihrer jeweiligen Beziehung zur P. und der damit verbundenen Theoriebildung.

Die Vermittlung zwischen T. und P. ist daher in der Erwachsenenbildung von besonderer Komplexität. Diese Vermittlung lässt sich nach vier Anlässen definieren:

  • Theoriebildung aus erforschten Praxisanlässen, die dazu beiträgt, Handlungsprobleme zu lösen, wobei dieser Typ meist eng an die Träger und Einrichtungen der Erwachsenenbildung gebunden ist;
  • Theoriebildung, die durch Forschung zu übergeordneten Systembedarfen initiiert ist, z. B. Bereichsdefizite, Innovationsbedarf (Innovation) und Strukturprobleme (meist staatlich veranlasst);
  • Theoriebildung zur Forschung und Entwicklung von Lehrplänen (Curriculum), Methoden, neuen Konzepten, meist zusammen mit Erprobungsphasen (in Weiterbildungseinrichtungen, oft auch in Unternehmen);
  • Forschung zur Entwicklung von Theorie- und Denkmodellen, die im Forschungsprozess den Praxisbezug vernachlässigt, aber praktische Wirksamkeit intendiert.

Zunehmend lösen auch europäische Praxisfragen Theoriebildung aus, oder Erkenntnisse (trans-)nationaler Forschungen werden für andere Länder nutzbar gemacht. Die Vermittlung zwischen T. und P. leistet einen Beitrag dazu, Wissensproduktion (Wissen) und Praxisentwicklung der Erwachsenenbildung transparent zu machen, zu steuern, zu innovieren und zu legitimieren (Mohajerzad et al., 2021).

Strukturelemente der Vermittlung (in der Form von Publikationen, Zertifikaten, Fortbildungen, Kongressen usw.) sind v. a. folgende:

  • die Zweiseitigkeit der Kommunikation, nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse in P., sondern praktische Erkenntnisse und Fragen in Wissenschaft bzw. T. zu vermitteln (Wissenstransfer – Wissenschaftskommunikation);
  • die Verständlichkeit, die nicht nur Sprache und Begriffe umfasst, sondern auch Relevanz der Fragen und des behandelten Inhalts;
  • die Ungleichzeitigkeit von T. und P., in der wissenschaftliche Erkenntnisse meist auf ein bereits weiterentwickeltes Praxisfeld stoßen;
  • die Akzeptanz der Vermittlung, die sowohl von den Interessen und der Legitimation als auch von der Passung zueinander hergestellt werden muss;
  • die Arbeit der Vermittlung, die ähnlich aufwendig und professionell zu leisten ist wie jede pädagogische oder wissenschaftliche Arbeit;
  • die Reflexivität, der Bezug auf das jeweilige Gegenüber und auf sich selbst, ohne den ein interaktiver Vermittlungsprozess nicht gelingen kann.

Das Wichtigste in den Vermittlungsprozessen von T. und P. aber ist die Identität der Beteiligten. Wissenschaftliche Arbeit und Theoriebildung folgen anderen Zielen und Interessen mit anderen Methoden als praktisch-pädagogische Arbeit. Ersterer geht es um Erkenntnis, Letzterer um Gestaltung. Beide können nur dann miteinander kommunizieren, wenn sie ihre unterschiedlichen Identitäten und Ziele kennen und akzeptieren.

Literatur

Cendon, E., Mörth, A. & Pellert, A. (Hrsg.). (2016). Theorie und Praxis verzahnen. Lebenslanges Lernen an Hochschulen (Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung des Bund-Länder-Wettbewerbs Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen, Bd. 3). Münster: Waxmann.

Hessischer Volkshochschulverband. (2015). Hessische Blätter für Volksbildung, 65(1). Thema: Verhältnis von Theorie und Praxis. Bielefeld: wbv Publikation.

Mohajerzad, H., Martin, A., Christ, J. & Widany, S. (2021). Bridging the gap between science and practice: research collaboration and the perception of research findings. Frontiers in Psychology, 12, Art. 790451.

Siebert, H. (2011). Theorien für die Praxis (Reihe Studientexte für Erwachsenenbildung, Bd. 14). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Teilnehmerorientierung
Thüringer Richtung der Erwachsenenbildung