Teilnehmerorientierung

Josef Schrader

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-270

T. gilt seit nunmehr 40 Jahren in Disziplin und weiten Teilen der Profession als Leitprinzip der Erwachsenenbildung. International wird oft von einem learner-centred approach gesprochen. In der Phase der Bildungsreform erfüllte dieses Leitprinzip neben anderen die Funktion, die Besonderheit der als Praxis und Wissenschaft neu etablierten Erwachsenenbildung gegenüber Schule und Hochschule zu legitimieren. Wenn es um die Planung von Weiterbildungsangeboten (Angebot) geht, ist Zielgruppenorientierung ein verwandtes Prinzip; wenn die Durchführung betont wird, sind es Situations-, Lebenswelt- (Lebenswelt), Biografie- (Biografie) und Erfahrungsorientierung (Erfahrungen – Erfahrungsorientierung). Präskriptiv verwendet, bringt der Begriff T. den pädagogischen Appell zum Ausdruck, Lehr-Lern-Prozesse vom Teilnehmenden her, auf den Teilnehmenden hin und mit ihm gemeinsam zu planen und zu gestalten. Insofern die Orientierung an den Teilnehmenden für alle organisierten Bildungsprozesse konstitutiv ist, hebt das Prinzip für die Erwachsenenbildung hervor, dass sie die Voraussetzungen, Erwartungen, Lernstile und kognitiven Strukturen der Lernenden in einem höheren Maße berücksichtigen müsse als eine Systematik der Sachthemen (Inhalte – Themen), die in Schule und Hochschule immer noch im Mittelpunkt stehen.

Der Begriff T. hat unterschiedliche Auslegungen erfahren. Hans Tietgens votierte für
„didaktische Antizipation“, Gerhard Breloer für „Teilnehmerpartizipation“, Heinrich Dauber für „Selbststeuerung“ (Breloer, Dauber & Tietgens, 1980). In die Begründung des Prinzips mischen sich didaktische (Didaktik – Methodik), ethische (Ethik), anthropologische (Anthropologie) und kognitionspsychologische Argumente (Kognition), nicht aber ökonomische (Wirtschaftlichkeit) wie bei der Kundenorientierung. Empirische Studien haben gezeigt, dass pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich auf das Prinzip der T. berufen, dieses v. a. für die Begründung konkreter Handlungsstrategien im Unterricht nutzen (Luchte, 2001). Der Begriff T. taucht v. a. in der allgemeindidaktischen Diskussion auf, dazu in der Ratgeberliteratur sowie in den Legitimationsdebatten um korporativ-plurale Weiterbildungsanbieter.

Ähnlich wie die allgemeine Didaktik hat der Prinzipiendiskurs der Erwachsenenbildung den Kontakt zur empirischen Lehr-Lern-Forschung kaum herstellen können. Allenfalls in der Gründungsphase hat die engagiert geführte Diskussion um das Prinzip der T. ­einige deskriptive Studien angeregt. Die Befunde lassen sich im Anschluss an Fritz Oser danach ordnen, ob sie die Sicht- oder die Tiefenstruktur von Lehr-Lern-Prozessen betreffen. Auf der Ebene der Sichtstruktur verortet Oser die Arbeits- und Sozialformen und den Medieneinsatz (Medien in Lehr-Lern-Prozessen), auf der Ebene der Tiefenstruktur die kognitiven Lernwege (Lernstrategien – Arbeitstechniken), die für gewünschte Lehr-Lern-Ziele unverzichtbar sind. Siebert und Gerl (1975) haben in einer Studie zur soziokulturellen Erwachsenenbildung gezeigt, dass selbst in diesen Kursen ein stoff- und dozentenorientierter Unterricht überwiegt. Für die Tiefenstruktur des Unterrichts machten die im Bildungsurlaubs-Versuchs- und Entwicklungsprogramm (BUVEP) durchgeführten Untersuchungen von Yvonne Kejcz, Karl-H. Monshausen, Ekkehard Nuissl, Hans-U. Paatsch und Peter Schenk in den Jahren 1979 bis 1981 darauf aufmerksam, dass die Deutungsmuster von Lehrenden und Lernenden kaum aufeinander bezogen werden konnten, dass es, so die Interpretierenden, also zu einer „Verdopplung der Inhalte“ kam.

Die schulbezogene Forschung beschäftigt sich mit der Frage, auf welcher der beiden Ebenen des Unterrichts v. a. über den Lernerfolg entschieden wird. Jüngere Befunde sprechen dafür, dass die Sichtstruktur des Unterrichts im Sinne einer educational seduction für Lernende hinreichend attraktiv sein muss, um eine kognitive Aktivierung auf der Ebene der Tiefenstruktur zu ermöglichen. Ob und wie das Prinzip der T. in der Erwachsenenbildung im Sinne einer Passung (Hans Tietgens) von Lehr- und Lernverhalten, Anforderungen „der Sache“ und professionellem Rollenverständnis oder im Sinne einer gemeinsamen Konstruktion von Wirklichkeit (Konstruktivismus) praktiziert wird und werden kann, bleibt eine lohnende Forschungsfrage, die möglichst in Kooperation mit den Fachdidaktiken (Fachbereich – Fachdidaktik) bearbeitet werden sollte.

Literatur

Breloer, G., Dauber, H. & Tietgens, H. (1980). Teilnehmerorientierung und Selbststeuerung in der Erwachsenenbildung. Braunschweig: Westermann.

Kejcz, Y., Monshausen, K.-H., Nuissl, E., Paatsch, H.-U. & Schenk (1979 –1981). Bildungsurlaubs-Versuchs- und Entwicklungsprogramm der Bundesregierung (8 Bde.). Heidelberg: Esprint.

Luchte, K. (2001). Teilnehmerorientierung in der Praxis der Erwachsenenbildung. Weinheim: Beltz.

Siebert, H. & Gerl, H. (1975). Lehr- und Lernverhalten bei Erwachsenen. Braunschweig: Westermann.

Teilnehmende
Theorie und Praxis