Ortfried Schäffter
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-269
Der Begriff T. entspricht einer Rollenbezeichnung. Rollenbezeichnungen in einem Handlungsfeld lassen sich als Ausdruck funktionaler → Institutionalisierung beobachten. Für die gesellschaftliche Ausdifferenzierung von Weiterbildung sind sie als Hinweis zu verstehen, dass man es in Abgrenzung zu lebensweltlichen Organisationsweisen (→ Lebenswelt) nicht mehr mit der Person zu tun bekommt, sondern nur mit einer spezifischen Positionsstelle, gegenüber der sich normative Erwartungen verfestigt haben.
Die sich dabei herausbildende Benennungspraxis hat für das institutionelle Selbstverständnis von Erwachsenenlernen eine mehrfache Bedeutung:
- In Abgrenzung zu anderen Handlungsfeldern wird Wert auf bedeutsame Unterschiede gelegt: statt „Schülerinnen und Schüler“, „Studierende“ oder „Klientinnen und Klienten“ werden kontextspezifische Bezeichnungen wie „Hörerinnen und Hörer“, „Gruppenmitglieder“ oder T. eingeführt.
- Im Zuge der Institutionalentwicklung unterliegt die Benennungspraxis einem historischen Wandel. Begriffliche Übergänge in der Institutionsgeschichte der Erwachsenenbildung von „Hörerinnen bzw. Hörer“ zu „Teilnehmenden“, dann zu „Klientel“ und schließlich zu „Kundschaft“ können daher als jeweiliger Ausdruck der besonderen Corporate Identity einer Bildungseinrichtung und ihrer spezifischen → Lernkultur gedeutet werden. Andererseits ist eine uneinheitliche Benennungspraxis auch symptomatisch für strukturelle Unsicherheit oder für flexible Offenheit, was mit der vagen Kennzeichnung T. signalisiert wird.
- Jeder der gewählten Bezeichnungen entspricht eine Komplementärrolle auf der Seite der Lehrenden und bildet daher Pole aus, wie Dozentinnen und Dozenten – Hörerinnen und Hörer; Anbieterinnen und Anbieter – Kundinnen und Kunden; Kursleitende –
T. Die historische Benennungspraxis signalisiert zugleich den jeweils aktuell gültigen Sinnkontext von → Lehren und → Lernen. Damit ist sie auch impliziter Selbstausdruck einer pädagogischen Institutionalform und eines ihr entsprechenden Bildungsformats, woraus sich professionelle Anforderungen an die jeweils beteiligten Akteure ableiten und begründen lassen. - In Rollenbezeichnungen werden spezifische Aneignungskompetenzen (→ Kompetenz) mitgedacht. In Handlungsfeldern der Erwachsenenbildung wird jedoch im Gegensatz zu anderen Funktionsbereichen keine systematische → Sozialisation in präformierte Erwartungsmuster (z. B. die der Schülerrolle) geboten. Stattdessen gehört es hier zu den Rollenerwartungen an T., sich selbstständig zwischen unterschiedlichen Lernkontexten an ihren symbolischen Markierungen zu orientieren und den jeweiligen Anforderungen adäquat zu entsprechen. Diese Fähigkeit der „didaktischen Selbstwahl“ (Hans-D. Raapke) ist daher eine anspruchsvolle metakognitive → Schlüsselqualifikation lebensbegleitenden Lernens (→ lifelong learning).
- Neben seiner rollenspezifischen Bedeutung kann der Begriff T. auch eine funktionale und damit eine rein formale Beziehungsqualität erhalten. Diese findet sich in den Institutionalformen und Bildungsformaten von → Fernunterricht und → digitalem Lernen wieder, in denen „Teilnahme“ die virtuelle Qualität einer absenten Anwesenheit aufweist. Hier trifft man auf einen begrifflichen Bedeutungshorizont von „Teilnehmenden“, wie er zukünftig im Kontext einer Digitalisierung pädagogischer Kommunikation zunehmende Gestaltunganforderungen abverlangen wird.
Der Begriff T. stellt zudem eine zentrale Kategorie erwachsenenpädagogischer Planungspraxis dar (Lindemann & Tippelt, 2015). In diesem Zusammenhang bezieht er sich nicht nur auf Einzelpersonen mit jeweils individuellen Sichtweisen und Interessen, sondern stellt ein institutionelles „Konstrukt“ (Rolf Arnold) dar. Jochen Kade spricht von einer „Figur des Teilnehmers“ im Sinne eines konzeptionellen Rahmens, durch den der strukturelle Bruch zu den lebensweltlichen Verwendungsbereichen über die Partizipation bei der mikrodidaktischen Gestaltung fallbezogen bearbeitbar werden kann.
Durch den makrodidaktischen Begriff „Bildungsadressat“ erfährt die mikrodidaktische Handlungskategorie T. eine Ergänzung (Hippel, Tippelt & Gebrande, 2018). Jede Lehrveranstaltung hat bereits in der Planungsphase der Angebotsentwicklung (→ Angebot) die Voraussetzungen ihres eigenen Zustandekommens zu berücksichtigen und strukturell zu sichern. Darin unterscheidet sie sich vom staatlichen Schulunterricht, bei dem die Anwesenheit der Schülerinnen und Schüler als administrativ gesicherte Gegebenheit vorausgesetzt werden kann. „Adressatinnen und Adressaten“ im Sinne von planerisch antizipierte T. konkretisieren daher als Planungskategorie die pädagogische Zielrichtung und das pädagogische Leistungsprofil im Kontext angebotsförmiger Bildungsarbeit in Bezug auf lernbiografische Bedarfslagen (→ Biografie), sozialräumliche Zugänglichkeit (→ Sozialraumorientierung) und motivierender Aktivierung möglicher Interessen und Lernanlässe (→ Lernmotivation – Lerninteresse; → Weiterbildungsmotivation). T. als Handlungskategorie hingegen dienen der analytischen Ausdeutung bereits vorfindlicher Lerngruppen in Bezug auf Einzelentscheidungen der Sitzungsvorbereitung innerhalb einer zustande gekommenen Veranstaltung (Luchte, 2001). Beide Aspekte verschränken sich im Begriff „Zielgruppe“, der einerseits als Planungskategorie einen Adressatenbereich und andererseits als Handlungskategorie das überindividuell angelegte Konstrukt T. planerisch zugänglich macht (Schäffter, 2014).
Literatur
Hippel, A. von, Tippelt, R. & Gebrande, J. (2018). Adressaten-, Teilnehmer- und Zielgruppenforschung in der Erwachsenenbildung. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/
Weiterbildung (Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., Bd. 2, S. 1131–1147).
Wiesbaden: Springer VS.
Lindemann, B. & Tippelt, R. (2015). Adressaten, Zielgruppen, Teilnehmende. In J. Dinkelaker & A. von Hippel (Hrsg.), Erwachsenenbildung in Grundbegriffen (S. 57–65). Stuttgart: Kohlhammer.
Luchte, K. (2001). Teilnehmerorientierung in der Praxis der Erwachsenenbildung. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
Schäffter, O. (2014). Relationale Zielgruppenbestimmung als Planungsprinzip. Zugangswege zur Erwachsenenbildung im gesellschaftlichen Strukturwandel. Ulm: Klemm & Oelschläger.