System

Rolf Arnold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-265

Der Begriff S. steht ursprünglich für das Bemühen, die Objekte der Wahrnehmung – ob biologischer, soziologischer oder anderer Art – als Systeme, d. h. aus ihrer Funktionalität für die jeweilige Systemumwelt heraus zu verstehen. Dabei weitet sich der Blick: Es ist nicht mehr allein das Auge, welches seziert, beschrieben und durch Modelle in seiner Struktur und seinen Wirkungsmechanismen erklärt werden soll, sondern das Auge in seinem Wechselverhältnis mit dem Gehirn sowie den Stoffwechselprozessen des gesamten Körpers und seiner Inanspruchnahme durch die Lebens- und Arbeitssituation des Sehenden.

In ähnlicher Weise eröffnete die Systemtheorie auch Möglichkeiten, Gesellschaft und Individualität neu zu denken. Im deutschsprachigen Raum ist es insb. der Soziologe ­Niklas Luhmann (1927–1998) gewesen, der den Versuch unternahm, soziologische Systeme, z. B. Gesellschaft, Wissenschaft, Kultur oder auch Bildung und Erziehung, ausgehend von ihren funktionalen Verbindungen mit korrespondierenden Systemen zu beschreiben (Luhmann, 2004). Für die Systemtheorie werden Systeme durch die Unterscheidung eines Beobachtenden konstruiert, welcher zwischen S. und Nicht-S. bzw. System­umwelt differenziert. Diese Unterscheidung wird auf der Basis einer Leitdifferenz getroffen („konstruiert“), wodurch das S. seine funktionale Berechtigung erfährt. Diese Leitdifferenz artikuliert sich in gesellschaftlichen Systemen in einem Medium, welches sich aus einem gesellschaftlichen Zentralanliegen ergibt. So ist dieses Medium bspw. im Fall des Rechtssystems die Gerechtigkeit (mit der Leitdifferenz gerecht vs. ungerecht) und im Fall des Gesundheitssystems die Gesundheit (mit der Leitdifferenz gesund vs. krank).

Wiederholt wurde in der Pädagogik und in der Erwachsenenpädagogik darüber nach­gedacht, welcher spezifischen Leitdifferenz sie im Medium der Bildung oder des Lebenslaufs ihre Stiftung als S. verdanke. Während Niklas Luhmann und Hans E. Schorr die Selektionsfunktion des Bildungswesens mit ihrer impliziten Unterscheidung bestanden vs. nicht bestanden in den Blick nahmen, plädierten in der Erwachsenenbildung Jochen Kade et al. für die Leitdifferenz vermittelbar vs. nicht vermittelbar, um die Erwachsenenbildung als S. zu konstituieren. Dieser Vorschlag blieb allerdings nicht unwidersprochen. Gerade aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive (Konstruktivismus; systemische Erwachsenenbildung) ergeben sich gegenüber einer solchen Differenzierung grundlegende, sowohl erkenntnistheoretische als auch sprachphilosophische Hinterfragungen. Zwar lassen sich durch differenztheoretische Präzisierungen Klärungen erreichen, aber Charakteristika des Systems Erwachsenenbildung verwischen, wie u. a. Luhmanns Festhalten an der Differenz Kind vs. Erwachsener deutlich macht. Wie taucht in solchen „Begriffsschärfungen“ die fortwirkende Kindlichkeit als prägendes und gestaltendes Moment des Individualisierungsprozesses auf (Individualisierung)? Es spricht einiges dafür, dass neben der Differenz- auch eine Integrations- bzw. Begriffstheorie notwendig ist, die nicht von Zeit und Kontext abstrahiert und nach den diesen Unterscheidungen zugrunde liegenden Motiven sowie jeweiligen Kontexten fragt, um wirklich weiterführende Begriffe für das erwachsenenpädagogische Denken und Handeln zu etablieren. In diesem Sinne stehen die systemischen Konzepte für eine autopoietische Wende der Systemtheorie (Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen), welche die die Unterscheidung treffenden Beobachtenden stärker in den Fokus rückt (Arnold, 2019). Dadurch wird der Sachverhalt grundlegend, dass Menschen stets im Kontext ihrer biografisch erworbenen Emotions- und Deutungsmuster sich selbst und die Wirklichkeit beobachten, und dabei nicht ohne Weiteres zu einer anderen, ihnen unplausiblen Sicht der Dinge gelangen. Es ist dieses Eingebettetsein in die biografischen und energetischen Dynamiken, die auch die Aneignungsperspektive (Aneignung – Vermittlung) – quasi die Kehrseite der Beobachterperspektive –
in den Blick der Erwachsenenpädagogik rückt und ihr Lernen als eine Konstruktion von Wirklichkeit zu analysieren erlaubt. Gleichzeitig wird der Selbstorganisation sowie der Selbststeuerung der Lernenden eine erneute Aufmerksamkeit geschenkt – davon ausgehend, dass Erwachsene „lernfähig, aber unbelehrbar“ (Siebert, 2015) sind. Erwachsenendidaktisch angezeigt ist deshalb das Arrangieren, nicht das Vermitteln von Wissen, Perspektiven oder Handlungsmöglichkeiten – wissend, dass Erwachsene die Welt nicht nur so sehen, wie sie sehen, sondern auch so, wie sie sie auszuhalten vermögen.

Literatur

Arnold, R. (2019). Another brick in the wall. Zugänge zur Systemischen Pädagogik (Reihe systhemia – Systemische Pädagogik, Bd. 18). Bielefeld: wbv Publikation.

Luhmann, N. (2004). Systeme verstehen Systeme. In N. Luhmann (Hrsg.), Schriften zur Pädagogik (S. 48–90). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Siebert, H. (2015). Erwachsene – lernfähig aber unbelehrbar? Was der Konstruktivismus für die politische Bildung leistet. Schwalbach/Ts.: Wochenschau.

Varela, F. J. (1990). Kognitionswissenschaft, Kognitionstechnik. Eine Skizze aktueller Perspektiven (3. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Symbolischer Interaktionismus
Systemevaluation