Symbolischer Interaktionismus

Arnim Kaiser

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-264

Der symbolische I. kann als derjenige wissenschaftstheoretische Ansatz im Bereich der Sozialwissenschaften verstanden werden, der auf den Kategorien der Bedeutung und des Verstehens basiert. Beim symbolischen I. wird die Sichtweise vertreten, dass soziales Handeln nicht einfach in der Ausführung systemgegebener Rollendefinitionen und Normen besteht, sondern sich auf der Basis von subjektiven Bedeutungen vollzieht, die die jeweiligen Aktanten „konstruieren“ (Konstruktivismus; Phänomenologie). Hiernach führen sie also nicht bloß vorgegebene Rollenmuster aus, vielmehr interpretieren sie Situationen und soziale Rollen und definieren sie auf der Grundlage dieses Verständnisses. Die theoretischen Annahmen des symbolischen I. ermöglichen, unterschiedliche Auslegungen derselben Rolle als „normal“ anzusehen und sie nicht – gemessen an einer normativ gesetzten Rollendefinition – als „deviant“ zu bezeichnen.

Die Gesellschaft diffundiert allerdings nicht in zahllose, partikulare individuelle Bedeutungen, was die Basis für erwartbares und wechselseitiges Handeln auflösen würde. Vielmehr gründet auch subjektives Verstehen auf gesellschaftlich feststehenden „objektiven“ Bedeutungszusammenhängen, insb. auf sprachlichen Symbolsystemen (Sprache –
Fachsprache
). Sie geben die gemeinsame Grundlage ab, auf der der Einzelne seine zwar jeweils subjektiven Interpretationen im Sinne einer Modifikation allgemeiner Bedeutungen vornimmt, die ihm aber zugleich objektive, d. h. zutreffende Aussagen über das Verhalten anderer ermöglichen.

Individuell erworben und zugrunde gelegt wird der gesellschaftlich vorhandene Symbolvorrat zunächst im Rahmen kindlicher Sozialisation. Diese verläuft nach Georg H. Mead in den drei Schritten des Spiels (play), des Wettkampfs (game) und des generalisierten Anderen (generalized other). Mit play ist das Spiel gemeint, das vom Kind individuell, frei und zufällig entworfen ist. Hingegen verweist game auf ein Spiel, das bereits an Regeln gebunden ist und an dem folglich nur partizipiert, wer im Rückgriff auf das Regelsystem die Handlungen des Anderen antizipieren und sich selbst dabei ins Handlungskalkül einbeziehen kann. Der generalized other schließlich stellt die Verallgemeinerung der Fähigkeit dar, Handeln unter Einbezug der eigenen Person wie auch des Anderen vor dem Hintergrund allgemein geltender Normen und Regeln zu entwerfen. Dieses Vermögen sowie die Reflexion der Erwartungen anderer macht das ICH (me) aus, während das in der Situation spontan und frei ablaufende Handeln mit Ich (I) gleichgesetzt wird (Mead, 1978).

Der symbolische I. hatte im Bereich der Erwachsenenbildung enorme Auswirkungen auf die Methodologie und die Weiterbildungspraxis. Unter methodologischem Vorzeichen wurde auf seiner Grundlage zunehmend das qualitative Paradigma (interpretatives Paradigma) zur Geltung gebracht. Forschung tritt hierbei unter dem Anspruch an, diejenigen Bedeutungen zu erfassen, die Individuen einer bestimmten Situation oder ihrem Leben insgesamt zuschreiben (Kaiser, 2012). Forschungsmethodisch umgesetzt ist diese Prämisse im Konzept der Narration mit den Verfahren des fokussierten und des biografischen Interviews oder des autobiografischen Berichts (Biografie).

Der symbolische I. hat von seinen Prinzipien her dem Konstruktivismus den Boden vorbereitet. Allerdings sind aus makrosoziologischen Überlegungen sowohl der symbolische I. als auch der Konstruktivismus stark zu relativieren. Pierre Bourdieu hat mit seinem Habituskonzept (Habitus) auch empirisch belegen können, dass individuelles Handeln im Hintergrund von „strukturierenden Prinzipien der Gesellschaft“ beeinflusst und geprägt ist. Noch schärfer sichtbar wird die gesellschaftliche Bestimmtheit individuell konstruierten Handelns mit der zunehmenden Digitalisierung. Die Algorithmisierung (Big Data) zeigt individuelles Handeln als von Mustern geprägt und daher in hohem Maß vorhersagbar. Subjektivität oder Entscheidungsfähigkeit werden zunehmend durch Techniken entwertet, die von aggregierten Daten auf den individuellen Fall schließen können. Sie sind in der Lage, „mehr über uns zu wissen, als wir es selbst je könnten, weil sie unser Verhalten als spezielle Ausprägung eines in sich differenzierten allgemeinen Musters darstellen“ (Nassehi, 2019, S. 122).

Literatur

Blumer, H. (1978). Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen. (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit (S. 80–146). Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.

Bourdieu, P. (2016). Sociologie générale. Cours au Collège de France, 1983–1986 (vol. 2). Paris (FR): Seuil.

Kaiser, R. (2012). Was macht das Alter mit mir? – Die Sicht auf das eigene Alter(n) im Spiegel narrativ-
fokussierter Interviews. In A. Kaiser, R. Kaiser & R. Hohmann (Hrsg.), Metakognitiv fundierte Bildungsarbeit. Leistungsfördernde Didaktik zur Steigerung der Informationsverarbeitungskompetenz im Projekt KLASSIK (Reihe EB Buch, Bd. 32). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Mead, G. H. (1978). Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Nassehi, A. (2019). Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C. H. Beck.

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