Spiritualität

Rolf Arnold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-256

Der Begriff S. ist ein gemiedener, kritisierter und abgelehnter Begriff der Erwachsenenpädagogik. Spirituelle Angebote werden oft als Ausdruck einer Entwicklung gesehen, bei der „die Maßstäbe in Fließen gekommen [sind], die früher unangefochten rationales und irrationales Wissen voneinander schieden“ (Barz & May, 2001, S. 5). S. wird deshalb aus dem Spektrum einer auf Erkenntnis, Aufklärung und Vernunftgebrauch gerichteten Erwachsenenbildung eher ausgeklammert. Einer solchen Bewertung entgeht der Sachverhalt, dass der klassische Bildungsanspruch der Erwachsenenbildung, „sich selbst und die Welt zu verstehen und diesem Verständnis gemäß zu handeln“ (Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen), auch das Leben im Bewusstsein der „großen Fragen“ (Hartmut von Hentig) umfasst und mithin einen Kernbereich der Suchbewegungen Erwachsener markiert.

Die Berührungsängste der Erwachsenenpädagogik mit dem Thema S. sind dort berechtigt, wo Erwachsenenbildung Sinnstiftung „liefert“; sie sind unberechtigt in Bezug auf Angebote, welche die Sinnsuche Erwachsener begleiten und persönliche Transformationen unterstützen (transformative Erwachsenenbildung). Diesen Angeboten geht es nicht um die Klärung der großen Fragen, sondern um die Einbeziehung und Verankerung dieser Fragen im Identitätslernen Erwachsener (Identität). Entsprechende Angebote finden sich u. a. in der ökumenisch orientierten kirchlichen Bildungsarbeit (konfessionelle Erwachsenenbildung) ebenso wie in der Führungskräftebildung fortschrittlicher Organisationen, denen es um die tragende Wertbindung und die „selbsteinschließende Reflexion“ (Francisco J. Varela) der Verantwortlichen geht. Dabei werden Kernelemente des Bildungsgedankens aufgegriffen, reichen doch die Wurzeln der Pädagogik als Wissenschaft weit zurück in die theologisch-spirituelle Deutung des Menschseins. Und auch das Wort „Bildung“ verdankt seine pädagogische Aufladung der Imago-Dei-Tradition: Bildung ist letztlich der Prozess, in welchem der Mensch seine göttliche Ebenbildstruktur entfalten kann; sie ist demnach ein Prozess, der von innen nach außen erfolgt. S. basiert dabei auf einem grundsätzlichen Erstaunen des Einzelnen über das Leben und findet darin ihren Ausdruck, nichts für so und nicht anders gewiss zu nehmen. Vor diesem Hintergrund ist es alles andere als abwegig, auch die spirituelle Suche im Spektrum des Erwachsenenbildungsanliegens zu verorten, geht es dieser Suche doch u. a. um die „Fähigkeit, über das Ganze hinweg wahrnehmen und unsere augenblicklichen Sinneseindrücke hintanstellen zu können“ (Tomaschek, 2005, S. 9) – eine Vorstellung, welcher das Bemühen eigen ist, die Begrenztheiten zu überwinden und sich auf eine subjektive Transformation einzulassen (Götz & Philipp, 1999).

Beim spirituellen Lernen geht es um eine Tiefenverankerung der Kompetenzen zum Umgang mit der Ungesicherheit und der biografischen Kontingenz des eigenen Lebens. Diese Selbstvertiefung bzw. -transformation ist der Weg einer spirituellen Bildung. Erwachsene, die sich auf diesen Weg einlassen, verändern die Modi ihres Denkens, Fühlens und Handelns, indem sie sich von den eingespurten – konkretistischen – Weisen des Umgangs mit Wirklichkeit lösen und eine vierfache Bewegung vollziehen. Dabei kommen Modi des Umgangs mit sich selbst, der eigenen Beobachterrolle und der Welt zum Tragen, die sich in folgenden Bewegungen ausdrücken (Arnold, 2015):

  1. Der Modus der Reflexion (Sprachabhängigkeit): Sprache erzeugt Bilder (Konzepte) der Wirklichkeit; sie arbeitet mit Such-, nicht mit Findebegriffen.
  2. Der Modus der Gewissheit (Essenz): Unser Leben folgt nicht nur eigenen benennbaren Regeln, sondern auch den Energien des Lebendigen, die sich in und durch uns ausdrücken.
  3. Der Modus der Aufgehobenheit (Emotion): In den Emotionen drückt sich unser ursprünglicher Verstand aus. Wir verstehen so, wie wir es auszuhalten vermögen.
  4. Der Modus der Rückgebundenheit (Religion): Auch im eigenen Leben drückt sich eine Ganzheit aus, die den Sinn und die Richtung dieses Lebens bestimmt.

S. verleiht der Bildung ihre eigentliche Substanz. Sie konfrontiert die pädagogischen Illusionen der Veränderung durch Einsicht und des lebenslangen Aufbruchs mit ihren Begrenzungen und kann gerade dadurch den Blick auf neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung weiten. Durch diese Aufladungen erst wird aus Lernen und Kompetenzentwicklung „Bildung“ im ursprünglichen Sinn des Wortes. Der Mensch ist allerdings nicht nur durch Lernfähigkeit, sondern auch durch Starrheit und Persistenz der systemischen Muster, die in ihm und durch ihn wirken, gekennzeichnet (Deutungsmuster). Ebenso ist das menschliche Leben nicht nur Aufbruch, sondern auch Abrundung und Abschied. Spätestens jenseits der Lebensmitte bricht die Sinnfrage auf. Die Bewusstheit um die Endlichkeit unseres Lebens ist eine wesentliche Dimension einer spirituellen Bildung. Erst der Tod verleiht dem reiferen Leben das eigentliche Relevanzkriterium. Es geht diesem nicht mehr nur darum, sich zur Entfaltung zu bringen, sondern auszuwählen und im Lichte der eigenen Endlichkeit zu entscheiden, was noch zu tun ist, um dem eigenen Wirken die Gestalt zu geben, die in ihm steckt. Leben ist Abrundung, und Leben ist Abschied. Wir schaffen nicht nur beständig Neues, sondern verlieren, lassen los und gehen fort. Das reifere Leben ist in stärkerem Maße durch diese verlierende Dimension des Lebens gekennzeichnet als das junge Leben; doch auch das junge Leben bedarf der Vorbereitung und Einstimmung auf die Ambivalenz des Seins und des Gewahrwerdens der unterschiedlichen Dimensionen spiritueller Lebenspraxis.

Literatur

Arnold, R. (2015). Leadership by Personality. Von der emotionalen zur spirituellen Führung. Ein Dialog. Wiesbaden: Springer Gabler.

Barz, H. & May, S. (Hrsg.). (2001). Erwachsenenbildung als Sinnstiftung? Zwischen Bildung, Therapie und Esoterik. Bielefeld: W. Bertelsmann.

Götz, K. & Philipp, T. (1999). Berufliche Bildung und Spiritualität. In M. Bangert & K. Götz (Hrsg.), Die individuelle Perspektive (S. 39–52). München: Hampp.

Tomaschek, M. (2005). Management, Spiritualität und was uns wesentlich sein könnte. In M. Tomaschek (Hrsg.), Management & Spiritualität: Sinn und Werte in der globalen Wirtschaft (S. 8–15). Bielefeld: Kamphausen.

Sozialraumorientierung
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