Sozialisation

Helmut Bremer

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-254

Mit dem Begriff S. ist der Prozess der Vergesellschaftung des Individuums gemeint, d. h. die Entwicklung von Persönlichkeit (Persönlichkeitsbildung) und Identität im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen im Verlauf des Lebens einschließlich des Erwerbs von gesellschaftlichen Werten und Rollen – kurz: das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Einerseits wird betrachtet, inwiefern die Konstitution von Gesellschaft angesichts von Individuen und andererseits, inwiefern die Konstitution von Individualität und Identität angesichts von Gesellschaft möglich ist. Entsprechend des interdisziplinär geprägten Erkenntnisinteresses findet das Phänomen S. in klassischen Ansätzen der Soziologie, Psychologie bzw. Psychoanalyse und Erziehungswissenschaft sowie in verschiedenen theoretischen Paradigmen Beachtung.

Die S. (von Erwachsenen) umfasst neben den intendierten und pädagogisch gerahmten auch die durch unbeabsichtigte Einflüsse auf die Persönlichkeit bedingten Lernprozesse und ist somit mehr als Erwachsenenbildung i. e. S. Gerade dadurch wird ein kritisch-reflexiver Blick auf die pädagogischen, sozialen, politischen und ökonomischen Ziele und Möglichkeiten (institutioneller) Erwachsenenbildung ermöglicht, bspw. im Hinblick darauf, wer überhaupt an Weiterbildungsangeboten teilnimmt bzw. teilnehmen sollte (Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung). Auch zentrale Konzepte auf der praktischen Ebene, wie Lebenswelt- (Lebenswelt), Alltags- (Alltag) oder Teilnehmerorientierung, können im Rahmen institutioneller Erwachsenenbildung „ohne sozialisationstheoretische Fundierung kaum tatsächlich greifen“ (Wittpoth, 1994, S. 2).

Dominierend war bzw. ist noch immer ein Verständnis, wonach Menschen durch frühe S. in Familie, Schule und durch Peer Groups eine Art Grundausstattung erhalten, um im Erwachsenenstatus sozial, ökonomisch und rechtlich handlungsfähig zu sein. Gleichwohl hat eine intensive Debatte zur Erwachsenensozialisation bereits in den 1970er Jahren begonnen (Griese, 1979), wurde allerdings später kaum weitergeführt.

Die Bedeutung von Sozialisationsprozesse auch im Erwachsenenalter kann mit den gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Entwicklungen begründet werden, die lebenslanges Lernen (lifelong learning) erfordern und zugleich ein Erodieren traditioneller Erwerbsarbeitsmuster und sog. Normalbiografien zur Folge haben. Dadurch sind Individuen mit zahlreichen Diskontinuitäten und Unsicherheiten konfrontiert und müssen im Verlauf ihres (Erwerbs-)Lebens immer wieder erweiterte bzw. neue berufliche Tätigkeiten ausüben und Umbrüche bewältigen. Diese Entwicklungen sind mit arbeits- und lebensweltbezogenem Weiterlernen und mit biografischen „Neujustierungen“ verbunden. Individuen stehen so wiederholt vor der Herausforderung, ihre Identität neu herzustellen und ihren Habitus zu restrukturieren. Solche Übergänge zwischen verschiedenen sozialen Positionen und Situationen lassen sich als Sozialisationsprozesse fassen und müssen gesellschaftlich und subjektiv bewältigt werden. Dies geschieht mit und ohne Beteiligung der institutionellen Erwachsenenbildung (Institutionalisierung).

Trotz dieser offenkundigen Notwendigkeit der Berücksichtigung sozialisationstheoretischer Perspektiven wird im Weiterbildungskontext nur selten auf Erwachsenensozialisation bezuggenommen. So hat es seit den 1990er Jahren kaum wissenschaftliche Beiträge gegeben, die sich explizit mit Erwachsenensozialisation beschäftigen. Eine Ausnahme stellt einerseits Wittpoth (1994) dar, der hierzu auf das interaktionistische Konzept von George H. Mead und den Habitusansatz von Pierre Bourdieu rekurriert, und andererseits Weymann (2004), der hierzu das lebenslauftheoretische Konzept heranzieht. Der Sache nach werden jedoch viele Themen, die die S. Erwachsener betreffen, v. a. in der Adressaten- und Teilnehmerforschung sowie in der Biografie- (Biografie) und der Lebenslaufforschung (Lebenslauf) bearbeitet (ausführlich: Bremer, 2018).

Ein stärkerer Rückbezug auf Sozialisationstheorien könnte aufgrund der darin angelegten engen Verknüpfung verschiedener Ebenen und Logiken erheblich zur Beantwortung der Fragen beitragen, inwiefern, in welcher Weise, mit welchen Intentionen und ggf. auch mit welchem Eigeninteresse die Erwachsenenbildung in Prozesse der Verhältnisklärung von Individuum und Gesellschaft eingebunden ist.

Literatur

Bremer, H. (2018). Sozialisationstheorie und Erwachsenenbildung. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., über­arb. u. akt. Aufl., Bd. 1, S. 127–144). Wiesbaden: Springer VS.

Griese, H. M. (Hrsg.). (1979). Sozialisation im Erwachsenenalter. Weinheim: Beltz.

Weymann, A. (2004). Individuum – Institution – Gesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.

Wittpoth, J. (1994). Rahmungen und Spielräume des Selbst. Frankfurt a. M.: Diesterweg.

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