Rolf Arnold
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-248
Der Begriff S. steht für eine reflexive Bewegung des Subjekts, in der dieses sich selbst zum Thema werden lässt. Neben unzähligen Lebenshilfeangeboten auf dem Ratgeber- und Beratungsmarkt folgen auch Erwachsenenbildungsangebote diesem Trend zum Selbst, indem sie sich den Möglichkeiten eines Identitätslernens (→ Identität) zuwenden, welche die → Teilnehmenden zu einer angeleiteten Selbstreflexion in biografischen und thematischen Suchbewegungen führen, u. a. in der Frauenbildung, der Lehrerbildung und der → Führungskräftebildung. Während kirchliche Angebote zur spirituellen Übung (→ Spiritualität) oft durch Ignatius von Loyola (1491–1556) inspiriert sind, erleben auf dem → Weiterbildungsmarkt Achtsamkeitstrainings einen Aufschwung. Amerikanische Universitäten kümmern sich seit Jahrzehnten um die Contemplative Education ihrer Studierenden (Astin, Astin & Lindholm, 2010; Gunnlaugson et al., 2015); neuere sozialwissenschaftliche Konzepte rücken „Awareness-Based Social Change Practices“ (Bockler, 2021) ins Zentrum der Überlegungen zu der Frage, wie sich Individuen, → Organisationen sowie → Gesellschaften wandeln können.
Angebote der Erwachsenenbildung zur S. und B. zielen auf die Einübung einer „selbsteinschließenden Reflexion“ im Sinne von Francisco Varela (1946–2001). Dieser hatte den Impuls der mit Humberto R. Maturana (geb. 1928) entwickelten biologischen Erkenntnistheorie aufgegriffen, der zufolge nicht nur unser Wahrnehmen und Erkennen, sondern auch unsere Bewusstheitszustände (→ Bewusstsein) lediglich Ergebnis und Ausdruck unserer Sinnesorgane und Gehirnfunktionen sowie unserer biografisch erworbenen Emotions- und → Deutungsmuster seien. Dem Bewusstsein komme somit „eine tunnelartige Natur“ (Metzinger, 2009) zu, die uns nur sehen lässt, was wir bereits erahnen, kennen oder befürchten. Ob, wie und in welche Richtung eine Weiterentwicklung dieser „zufälligen“ Ausstattung – durch eine angeleitete und begleitete Selbstreflexion oder auch Meditation – möglich ist und eine gezielte Veränderung des Bewusstseins erreicht werden kann, das sind die Kernfragen der noch jungen Bewusstseinsforschung.
Gleichzeitig gewinnt im Kontext der beschleunigten – in vielen Bereichen disruptiven –
Modernisierungsschübe (→ Modernisierung) die erwachsenenpädagogische Frage an Gewicht, ob das Gelingen des Lebens in solchen Wandlungsphasen nicht gerade davon abhängt, ob und inwieweit die eingeschliffenen Formen eines learning from the past mehr und mehr überwunden und andere – bislang übersehene oder gar ausgeschlossene, auf jeden Fall weitere Perspektiven eröffnende – Formen der Wirklichkeitskonstruktion (→ Konstruktivismus) in den Blick genommen und gezielt geübt werden können. Selbst wenn für diese Zukunftskonstruktionen zunächst wenig oder nichts zu sprechen scheint, können sie gerade dadurch, dass man sie visualisiert und nachdrücklich-übend als Grundlage des eigenen – verantwortlichen – Fühlens, Denkens und Handelns nutzt, mehr und mehr Wirklichkeit werden. In diesem Sinne sprechen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology von einem Lernen, welches von der Zukunft her erfolgt, von einer Zukunft (des Einzelnen, einer Gruppe, Organisation oder Gesellschaft), die in Erscheinung treten möchte bzw. könnte (Scharmer, 2009).
S. und B. stellen sich somit als Formen einer radikal-subjektorientierten Wende des Erwachsenenlernens dar (→ Subjektorientierung). Diese folgt dem Konzept eines Lernens zweiter Ordnung. Dabei geht es in erster Linie nicht um die → Inhalte selbst, sondern um die Fokussierung auf die Art und Weise, wie die Lernenden ihre → Aneignung gestalten und welchen für sie typischen Strukturbesonderheiten sie dabei folgen. Die Lernpraxis des Selbst steht dabei im Vordergrund – stets mit der Absicht, mehr über die Muster und Bewegungen des individuellen Identitätslernens in Erfahrung zu bringen und sich gegenüber einer Transformation liebgewonnener Sichtweisen, bevorzugter Formen des Argumentierens sowie tiefverwurzelter innerer Bilder zu öffnen (→ transformative Erwachsenenbildung).
S. ist dabei mehr als Selbstlernen. Es bezieht sich thematisch auf das eigene Bewusstsein sich selbst und der Welt gegenüber und stärkt die Einsicht, dass dieses so, wie es ist, weder richtig noch falsch, wohl aber kontingent ist (Motto: „Es könnte auch ganz anders sein!“). Zwar ist es wohl zutreffend, wenn Philosophen feststellen: „Bewusstsein ist die gut geputzte Brille, durch die wir auf die Welt blicken. Aber die Brille selbst können wir nicht austauschen“ (Hübl in Eckoldt, 2017, S. 24). Gleichwohl denken, fühlen und handeln Menschen achtsamer und vielfach auch toleranter sich selbst und der Welt gegenüber, wenn sie sich der Tatsache bewusst werden, dass auch sie lediglich durch eine Brille zu blicken in der Lage sind.
Erwachsenenpädagogische B. sensibilisiert gegenüber den Gefahren der üblichen „Bewusstseinsfallen“. Diese öffnen sich, wenn Menschen
- vehement ihren vertrauten Formen, die Welt und sich selbst zu fühlen und entsprechend zu agieren, um jeden Preis verhaftet bleiben wollen (selbst in Anbetracht evidenzbasierter Argumente).
- in ihren Alltagskontexten (→ Alltag; → Lebenswelt), in ihren Informationsweisen und auf ihren bevorzugten Diskurswegen sich mit Gleichgesinnten umgeben bzw. fremde und verunsichernde Kontexte meiden.
- implizit davon ausgehen, dass ihr bewusstes Abwägen, Darlegen und Urteilen sie mit einer „wahren“ Wirklichkeit in Verbindung zu bringen vermag, welche auch für andere mit einer ähnlichen Überzeugungskraft evident wirkt. Die „Illusion of Conscious Thought“ (Carruthers, 2017) ist ihnen unvertraut.
- davon ausgehen, dass allein wissenschaftliches → Wissen und Erkennen wirksamere Kompetenzen für einen gelingenden Umgang mit dichtem Erleben und emotional bedrängenden oder gar destruktiven Lagen zu stiften vermag – so auch eine verkürzte Lesart des erwachsenenpädagogischen Aufklärungsanspruchs.
B. sensibilisiert für diese „Fallen“ und unterstützt Lernende bei ihrer Suche, eine innere Substanz zu stärken, der alles „Weiter-So“ fremd ist. Auch das „Weiter“ selbst wirft bereits Fragen an das eigene Bewusstsein auf: Welche Formen des Umgangs mit mir selbst und der Welt möchte ich in der mir bleibenden Zeit verändern? In welche Richtung möchte ich weiter reifen? Wann lebe ich bewusst, wann in einer Wiederholung oder in Formen des Denkens, Fühlens und Handelns verhaftet, die nichts oder wenig mit der aktuellen Situation und den anderen Akteuren zu tun haben? Wie kann ich im Sinne der Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft wirksamer deuten und interagieren? B. ist das Bemühen um eine nüchterne Beobachterposition, von der aus das eigene Selbst und die Welt mit der Summe der bislang ausgeblendeten Möglichkeiten erkannt bzw. gespürt werden kann.
Das systemische Beobachten, Forschen und Gestalten vertiefte, versachlichte und radikalisierte in den letzten Jahren seine Beobachterorientierung. Zwar galt immer schon das Diktum Humberto R. Maturanas, dass jede Beobachtung von einem Beobachter gemacht werde, doch hielt diese grundsätzliche Beobachtergebundenheit nur selten Einzug in die Konzepte und Theorien darüber, was eine professionelle B. ist und wie diese angebahnt, unterstützt und begleitet werden kann. Einsichten in die biografische Relativität der eigenen Deutungen derer, die entsprechende Bildungsangebote entwickeln und begleiten, wurden oft verpasst, und die „selbsteinschließende Reflexion“ (Varela, Thompson & Rosch, 1991) trat immer wieder hinter – gelernten – wissenschaftlichen Erklärungen zurück. Nur vereinzelt stellte man sich der für die eigene → Professionalität grundlegenden Erschütterung, dass uns bloß eine „nichtwissende Beratung“ (Arnold, 2018b) sowie eine „spürende Vernunft“ (Arnold, 2018a, S. 73ff.) mit dem handlungsleitenden Wissen und auch den grundsätzlichen Möglichkeiten der Gegenübersysteme wahrhaft in Verbindung zu bringen und dadurch auch anschlussfähige Veränderungsschritte auf der Basis eines veränderten oder gar erweiterten Bewusstseins zu eröffnen vermögen.
Literatur
Arnold, R. (2018a). Ach, die Fakten! Wider den Aufstand des schwachen Denkens. Heidelberg: Carl-Auer.
Arnold, R. (2018b). Nichtwissende Beratung. Von der Intervention zur Übung. Baltmannsweiler: Schneider.
Astin, A. W., Astin, H. S. & Lindholm, J. A. (2010). Cultivating the spirit. How college can enhance students‘ inner lives. San Francisco (US): Jossey-Bass.
Bockler, J. (2021). Presencing with soul. Journal of Awareness-Based Systems Change, 1(1), 15–33.
Carruthers, P. (2017). The illusion of conscious thought. Journal of Conscious Studies, 24(9–10), 228–252.
Eckoldt, M. (2017). Kann sich das Bewusstsein bewusst sein? Gespräche mit Dirk Baecker, Markus Gabriel, John-Dylan Haynes, Philipp Hübl, Natalie Knapp, Christof Koch, Georg Kreutzberg, Klaus Mainzer, Abt Muhô, Michael Pauen, Johannes Wagemann, Harald Walach. Heidelberg: Carl-Auer.
Gunnlaugson, O., Sarath, E. W., Scott, C. & Bai, H. (Eds.). (2015). Contemplative learning and inquiry across disciplines. Albany, NY (US): SUNY Press.
Metzinger, T. (2009). Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. München: Piper.
Scharmer, C. O. (2009). Theory U. Leading from the future as it emerges. San Francisco (US): Berrett-Koehler.
Varela, F. J., Thompson, E. & Rosch, E. (1991). Der mittlere Weg der Erkenntnis. Die Beziehung von Ich und Welt in der Kognitionswissenschaft – der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung. Bern (CH): Scherz.