Öffentliche Verantwortung

Ekkehard Nuissl

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-209

Der Begriff ö. V. für den Weiterbildungsbereich wird erstmals im Strukturplan des Deutschen Bildungsrats (1970) verwendet; er ist dort jedoch nicht operationalisiert. Das gilt auch für die „öffentliche Aufgabe“, welche die Bund-Länder-Kommission im Jahr 1973 für Bund, Länder und Gemeinden im Hinblick auf Weiterbildung formuliert. Von öffentlichem Interesse, so meinte man damals, sei die Planung des Bildungswesens, die Festlegung von Qualitätsstandards (Qualität) und die Formulierung von Lernzielen (Curriculum; Lehr-Lern-Ziele). Begründet wurde die ö. V. für die Weiterbildung mit einem gesellschaftlichen Interesse und der Annahme, dass eine selbstregulierte Weiterbildung, Marktmechanismen folgend, gesellschaftliche Bildungsbedarfe möglicherweise nicht erkennen oder befriedigen könne. Die ö. V. für die Erwachsenen- und Weiterbildung wurde in den 1970er Jahren in den meisten Ländern der Bundesrepublik Deutschland in Gesetzen festgelegt (Recht der Weiterbildung). Die Rede war von „Grundangeboten“ zur Weiterbildung für die erwachsenen Einwohnerinnen und Einwohner des Einzugsgebiets, die Komplettierung der Infrastruktur im Kultur- und Bildungsbereich der Region (Erwachsenenbildung in der Region) sowie von einer Zentralfunktion für die Kommunen, insb. mit Blick auf die Volkshochschulen.

Verbunden mit der öffentlichen V. war von Beginn an die Vorstellung der Erwachsenen- und Weiterbildung als der „vierten Säule“ eines öffentlichen und bildungspolitisch verantworteten gesamten Bildungssystems. Jedoch blieb der Begriff ö. V. kaum operationalisiert. Nicht der Staat wurde damit in die Pflicht genommen, sondern eine nicht als bildungspolitisches Subjekt agierende Öffentlichkeit, was Verantwortung und Gestaltung betraf, sowie ein Appell an die Weiterbildungsverbände und -organisationen selbst gerichtet. Im Zuge der Entwicklung des Verhältnisses von privat und öffentlich in den industrialisierten Gesellschaften, auch in Deutschland, verschoben sich die Eckdaten dessen, was in öffentlicher V. sein soll. Viele öffentliche Einrichtungen (z. B. Post und Bahn) erhielten privatwirtschaftliche Grundlagen, viele öffentliche Aufgaben (z. B. für Sicherheitsdienste) wurden in private Hände gegeben, viele privatwirtschaftlichen Ziele haben öffentliche Ziele substituiert, einige öffentliche Strukturen (z. B. Kirche, Partei und Verbände) haben an Kraft verloren, privatwirtschaftliche Strukturen wurden öffentlich oder zur Determinante staatlicher Politik (z. B. in Finanzkrisen), und ein gemeinsamer öffentlicher Zielkonsens wurde zunehmend schwächer (Nuissl, 1996). Eine öffentliche, d. h. insb. staatliche Förderung und Gestaltung der Weiterbildung (staatliche Weiterbildungsförderung) hatte bis zum Beginn des 21. Jh. immer mehr abgenommen; dies zeigte sich v. a. an dem Rückgang der öffentlichen Finanzierung der Weiterbildung (Widany et al., 2021).

In jüngster Zeit wird ö. V. zunehmend fokussierter diskutiert, insb. unter bildungspolitischen Akteuren. Viele Brüche in der politischen Umsetzung von Bildungskonzepten des lebenslangen Lernens (lifelong learning) und der Grundbildung (Alphabetisierung –
Grundbildung
) machten deutlich, dass wichtige Segmente der Weiterbildung (wie politische Bildung) ohne eine auch in Förderungssystemen realisierte ö. V. nicht bestehen können. Da Weiterbildung angesichts ihres Umfangs, aber auch der Verpflichtung gesellschaftlicher Organisationen (Subsidiarität) nicht vollständig staatlich gestaltet und finanziert werden kann und soll, konzentriert sich die bildungspolitische Diskussion auf die Frage, welche Segmente der Weiterbildung in öffentlicher V. sind und daher auch einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Dabei werden Kriterien herangezogen, die wiederum den unscharfen Begriff des „Öffentlichen“ verwenden: Ö. V. bestehe für diejenigen Institutionen der Weiterbildung, an denen öffentliches Interesse besteht. Damit wird versucht, private Weiterbildungsaktivitäten aus der öffentlichen V. herauszunehmen. Kriterien für eine Grenzziehung kommen aus gesellschaftlichen, zunehmend aber auch aus ökonomischen Bedarfsanalysen, die darauf fokussieren, welche Qualifikationen zur gesellschaftlichen Entwicklung erforderlich sind. Insb. berufliche Qualifikationen und berufliche Aus- und Weiterbildung (berufliche Weiterbildung; Fortbildung) ­rücken in den Blick der öffentlichen V. So wurde im Rahmen der Nationale Weiterbildungsstrategie (NWS) im Jahr 2019 unter Federführung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) eine erweiterte ö. V. über ein Qualifizierungschancen-Gesetz, ein Bildungszeit-Gesetz und eine verstärkte Koordination aller relevanten Akteure formuliert. Erkennbar sind auch nach wie vor Aktivitäten zur Intensivierung naturwissenschaftlicher Bildung und zur Grundbildung der Bevölkerung.

Zurückgegangen ist der Fokus der öffentlichen V. in Bereichen, die aus normativen Gestaltungsprinzipien der Gesellschaft begründet sind, wie das Verständnis des Staates und der gesellschaftlichen Teilhabe, der politischen Bildung und der Ökologie (Nachhaltigkeit; Umweltbildung). Dies zeigt sich v. a. in Regelungen zur Förderung dieser Inhalte. Der Staat befindet sich in einem fortwährenden Diskussionsprozess, wie der Kernbereich der öffentlichen V. in der Weiterbildung gezielt gefördert werden kann, wobei zunehmend wirtschaftliche Ziele eine Rolle spielen (Wirtschaftlichkeit).

Literatur

Deutscher Bildungsrat. (1970). Empfehlungen der Bildungskommission. Strukturplan für das Bildungs­wesen. Stuttgart: Ernst Klett.

Nuissl, E. (1996). Öffentlich verantwortete Weiterbildung — wie lange noch? In K. Ahlheim & H. Ackermann (Hrsg.), Lernziel Konkurrenz? Erwachsenenbildung im ,Standort Deutschland’; eine Streitschrift (S. 139–147). Opladen: Leske + Budrich.

Schrader, J. (2011). Struktur und Wandel der Weiterbildung (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, Bd. 17). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Timmermann, D. (2009). Öffentliche Verantwortung für Weiterbildung – Staatliche Finanzierung der Erwachse­nenbildung als Systemgestaltung. Bildung und Erziehung, 62(4), 421–440.

Widany, S., Reichart, E., Christ, J. & Echarti, N. (Hrsg.). (2021). Trends der Weiterbildung. DIE-Trendanalyse 2021 (Reihe DIE Survey. Daten und Berichte zur Weiterbildung, Bd. 10). Bielefeld: wbv Publikation.

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