Modernisierung

Josef Schrader

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-203

Unter M. wird in den Sozialwissenschaften ein zielgerichteter, tendenziell universeller Prozess verstanden, der eine zunehmende und zunehmend geplante Rationalisierung gesellschaftlicher Lebens- und Handlungsbereiche zum Ausdruck bringt. Räumlich und zeitlich wurde dieser Prozess zumeist am Beispiel der Entwicklung (west-)europäischer und nordamerikanischer Gesellschaften seit der Aufklärung untersucht.

Modernisierungstheorien gehörten lange zum Kernbestand sozialwissenschaftlichen Denkens. Max Weber (1934) hat die Geschichte moderner Gesellschaften als einen Prozess fortschreitender Rationalisierung und Säkularisierung interpretiert, der sie von traditionalen Gesellschaften unterscheide. Interessiert an den Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen des Kapitalismus als einem spezifisch okzidentalen Phänomen analysierte er die Bedeutung der protestantischen Ethik für den Geist des Kapitalismus. Talcott Parsons beschrieb M. als einen universalen gesellschaftlichen Prozess der funktionalen und hierarchischen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Beziehungen und (Teil-)Systeme (System). Dabei gehe eine zunehmende Mobilisierung menschlicher und sachlicher Ressourcen einher mit einer Individualisierung von Lebensläufen, einer Zunahme „vergeldlichter“ Tauschbeziehungen auf der Grundlage von Markt und Eigentum, einer Institutionalisierung von Konfliktregelungen, einer zunehmend vertraglichen Regelung gesellschaftlicher Beziehungen sowie einer wachsenden politischen Partizipation von Individuen und Gruppen einerseits und von staatlicher Steuerung andererseits. In der Deutung von Niklas Luhmann führt funktionale Differenzierung nicht zur Hierarchiebildung, sondern zu Gesellschaftsformationen, die keine Spitze und kein Zentrum mehr kennen. Ulrich Beck wendet sich gegen die Annahme linearer Entwicklungen und beschreibt eine „zweite“ oder „reflexive“ Moderne, in der sich die Erfolge der Rationalisierung und Verwissenschaftlichung gegen Basisinstitutionen der Moderne wenden und diese von innen her auflösen. Hans Joas (2017) schließlich stellt die seit Weber dominierende Annahme eines unilinearen und universellen Prozesses der Rationalisierung grundsätzlich infrage und entwickelt eine alternative Erzählung zur „Entzauberung“ der Welt, die die andauernde „Macht des Heiligen“, verstanden als Fähigkeit zur Selbsttranszendenz, als eine Potenz geschichtlicher Entwicklung betont.

In der jüngeren Zeit sind Modernisierungstheorien als „Zuschreibungen“ dekonstruiert worden: als eurozentrisch, teleologisch, deterministisch, nationalstaatlich verengt und fortschrittsgläubig. Demgegenüber hat Detlef Pollack (2016) davor gewarnt, die Krise moderner Gesellschaften als Krise von Modernisierungstheorien zu deuten: Die Annahme eines hochkomplexen und konstitutiven Verflechtungszusammenhangs von Prozessen der horizontalen Differenzierung von Funktionen, der vertikalen Differenzierung von Ebenen sozialer Interaktion, die Anwesenheit nicht mehr zwingend voraussetzt, und der Etablierung von Wettbewerbsforen biete immer noch eine fruchtbare theoretische Annahme für die empirische Analyse gesellschaftlicher Wandlungsprozesse (sozialer Wandel).

Die Forschung zur Erwachsenenbildung (Weiterbildungsforschung) hat unterschiedliche Anleihen an Modernisierungstheorien gemacht. Klassisch ist der Versuch, die Geschichte der Erwachsenenbildung in eine Geschichte von Demokratisierung und Industrialisierung einzuordnen, der, unterstützt durch empirische Befunde bildungssoziologischer Forschung (Bildungssoziologie), in eine Theorie „realistischer“ Bildung mündete (Strzelewicz et al., 1966). Verbreitet sind zudem Argumentationen, die sozialwissenschaftliche (Zeit-)Diagnosen zur Begründung und Rechtfertigung der Ziele und Arbeitsweisen der Erwachsenenbildung nutzen (Wittpoth, 2001). Schließlich gibt es erste Versuche, Struktur und Wandel der Weiterbildung vor dem Hintergrund sozialstaatlicher Modernisierungspolitiken (Systembildung durch Übernahme öffentlicher Verantwortung, Professionalisierung des pädagogischen Personals, Qualitätssicherung (Qualität) organisationaler Prozesse) zu interpretieren (Schrader, 2011).

Woran es noch fehlt, ist eine soziologisch aufgeklärte Analyse der historischen Rolle von Erwachsenenbildung in der Moderne, verstanden als ein ergebnisoffener Prozess, nicht als ein „Projekt“ (Jürgen Habermas). Dabei wäre zum einen zu fragen, welchen Einfluss M. auf Voraussetzungen, Prozesse und Ergebnisse der Weiterbildung nimmt, zum anderen, welchen Beitrag Weiterbildung zur Bewältigung von Modernisierungsimperativen leistet. Dafür könnte eine international vergleichende Erwachsenenbildungsforschung hilfreich sein, die „nicht-okzidentale“ Staaten einbezieht und divergente und konvergente Entwicklungen identifiziert und die sowohl offen ist für Modernisierungsprozesse als auch für Phänomene der Selbstbegrenzung, der Selbsttranszendenz und der „Entschleunigung“ (Hartmut Rosa). Das betrifft auch das lebenslange Lernen (lifelong learning) als eine gesellschaftliche Institution der Moderne.

Literatur

Joas, H. (2017). Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin: Suhrkamp.

Pollack, D. (2016). Modernisierungstheorie – revised: Entwurf einer Theorie moderner Gesellschaften. Zeitschrift für Soziologie, 45(4), 219–240.

Schrader, J. (2011). Struktur und Wandel der Weiterbildung (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, Bd. 17). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Strzelewicz, W., Raapke, H.-D. & Schulenberg, W. (1966). Bildung und gesellschaftliches Bewußtsein. Eine mehrstufige soziologische Untersuchung in Westdeutschland (Reihe Göttinger Abhandlungen zur Soziologie und ihrer Grenzgebiete, Bd. 10). Stuttgart: Enke.

Weber, M. (1934). Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Tübingen: Mohr.

Wittpoth, J. (Hrsg.). (2001). Erwachsenenbildung und Zeitdiagnose. Theoriebeobachtungen (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung). Bielefeld: W. Bertelsmann.

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