Mehrsprachigkeit

Ingrid Gogolin

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-196

Jede Gesellschaft ist mehrsprachig – nicht nur durch die Präsenz unterschiedlicher Einzelsprachen, sondern auch aufgrund des Variantenreichtums innerhalb einer Sprache. Dazu gehören regionale Varietäten, Gruppenjargons (wie die Jugendlicher), Modalitäten (wie Mündlichkeit oder Schriftlichkeit, Laut oder Gebärde, analoge oder virtuelle Ausdrucksweisen) oder fachliche Register. In komplexen Gesellschaften gibt es nach diesem Verständnis keinen einsprachigen Menschen; jede Person verfügt über mehr oder weniger Formen sprachlicher Varietät. Durch Migration nimmt die M. innerhalb einer Gesellschaft zu. Gesicherte Daten zur Zahl der alltäglich gebrauchten Sprachen gibt es für Deutschland nicht; doch ist es nach dem Wissen über Migration und nach regionalen Studien wahrscheinlich, dass es sich um mehrere hundert (außer Deutsch) handelt.

Forschung über Spracherwerb weist darauf hin, dass M. mit Vorteilen für die sprachliche Entwicklung und das Lernen generell verbunden ist. Die kognitiven Herausforderungen (Kognition), die das Leben in mehreren Sprachen für die Verständigung (Verstehen – Verständigung) bereitet, regen demzufolge die Entwicklung von Strategien der Sprachaufmerksamkeit an, die (sprach-)lernförderlich sind. Über die Lebenszeit betrachtet, erweist sich zudem der intensive Gebrauch von mehr als einer Sprache als förderlich für den Erhalt von kognitiven Fähigkeiten im Alter (Poarch, 2020).

Die Potenziale der M. für Lernen und Bildung sind aber nicht ohne Weiteres in positive Effekte für erfolgreiche Bildungsbiografien (Biografie) umzusetzen. Dem steht u. a. entgegen, dass die aus individuellen Voraussetzungen und alltäglicher Praxis gewonnenen Anlagen – wie jedes andere „Talent“ – der systematischen Förderung bedürfen, damit sie sich entfalten können. Dazu gehört, dass im angeleiteten Sprachlehr- und -lernprozess eine explizite Unterstützung des Ausbaus von Sprachbewusstheit erfolgen muss, damit Vorteile der M. über den Bildungsweg hinweg erhalten bleiben und wirksam werden können. Je älter Lernende sind, desto mehr benötigen sie für erfolgreiches sprachliches Lernen explizite Informationen und Angebote, die auf kognitive Verarbeitung gestützt sind (Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters).

Angebote der Erwachsenen- und Weiterbildung werden i. d. R. in Anspruch genommen, um funktionsspezifische sprachliche Mittel zu erwerben oder zu vertiefen (wie Alpha­betisierung, berufliche Register, Erwerb von Fremdsprachen oder einer Zweitsprache). Gerade für Personen mit höherem Lebensalter ist die Berücksichtigung vorhandener Spracherfahrungen und -fähigkeiten (Erfahrungen – Erfahrungsorientierung) grundlegend für den Erfolg beim Sprachenlernen. Bei Lernenden mit anderen Herkunftssprachen als Deutsch bilden auch diese die Basis dafür, sprachliches Können erfolgreich weiterzuentwickeln. Nicht selten verfügen diese Personen in ihren Herkunftssprachen über Kompetenzen, die sie – bei entsprechender Anregung – für das Lernen des Deutschen (Deutsch als Zweitsprache) ebenso wie anderer Sprachen nutzbringend einsetzen können (Heilmann & Grotlüschen, 2020).

Eine Praxis, die M. systematisch als Grundlage für Sprachbildungsangebote nutzt, ist noch rar. Hilfreich für die Weiterentwicklung von Ansätzen der Erwachsenenbildung, in denen die Heterogenität der sprachlichen Voraussetzungen ihrer Klientel die Grundlage für Lehr-Lern-Prozesse bildet, können digitale Systeme sein, die diagnostische Informationen über die Personen in einer Lerngruppe liefern (Schröter et al., 2020). Hierauf aufbauend könnten Lehrende individualisierte Angebote für Mitglieder ihrer Lerngruppen gestalten. Es steht allerdings noch aus, dass auch M. als Bildungsvoraussetzung in die auf „künstlicher Intelligenz“ beruhenden Systeme einbezogen wird.

Literatur

Heilmann, L. & Grotlüschen, A. (2020). Literalität, Migration und Mehrsprachigkeit. In A. Grotlüschen & K. Buddeberg (Hrsg.), Leben mit geringer Literalität (S. 115–141). Bielefeld: wbv Publikation.

Poarch, G. (2020). Mehrsprachigkeit im Alter. In I. Gogolin, A. Hansen, S. McMonagle & D. Rauch (Hrsg.), Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung (S. 157–161). Wiesbaden: Springer.

Schröter, H., Schrader, J. & Kholin, M. (2020). Individuelle Förderung auf der Basis eines erweiterten digitalen Lehr-Lern-Konzepts für den Fremdsprachenunterricht. Bonn: DIE.

Medien in Lehr-Lern-Prozessen
Mentoring