Literalität – Numeralität

Klaus Buddeberg

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-192

L. bezeichnet Kompetenzen und Praktiken im Bereich des Lesens und Schreibens, N. im Bereich der im Alltag genutzten Mathematik. Diese Kompetenzen und Praktiken können in beiden Fällen im Rahmen quantitativer Forschung gemessen oder durch qualitative Forschung beobachtet und beschrieben werden. Als basale Fähigkeiten spielen L. und N. in der Alphabetisierung und Grundbildung eine grundlegende Rolle.

L. weist Überschneidungen, aber nicht Deckungsgleichheit zum englischen Begriff lit­er­acy auf. Literacy kann zwar auch auf Lese- und Schreibfähigkeiten bezogen werden, trägt aber eine darüber hinausreichende allgemeine Bedeutung, die sich mit „Kompetenz“ beschreiben lässt. Bspw. hat financial literacy nicht nur mit Lesen und Schreiben im Zusammenhang mit Finanzen zu tun, sondern bezieht sich allgemein auf finanzbezogene Kompetenzen.

N. im Sinne des Rückgriffs auf Zahlen und Daten im Alltagsleben – hierzu zählen sowohl Schätzungen und Plausibilitätsprüfungen als auch Vereinfachungen und die Anwendung von Faustregeln – ist nicht deckungsgleich mit den in der Schule vermittelten mathematischen Kompetenzen. Numerale Praktiken werden vielfach nicht als „Mathematik“ anerkannt und werden somit quasi unsichtbar angewandt (invisible maths).

Die Beschäftigung mit Fragen der L. setzte in Deutschland in den 1970er Jahren ein und erfuhr wissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit durch mehrere Studien zur Kompetenzmessung der Bevölkerung. Der deutschsprachige Diskurs fokussierte lange Zeit auf das Thema L., während das der N. erst in den letzten Jahren intensiver beachtet wird.

L. und N. als messbare und in Stufen angeordnete Kompetenzen werden im Rahmen von bevölkerungsrepräsentativen Erhebungen (Large Scale Assessments) erfasst. Hierzu werden theoretische Kompetenzkonstrukte entwickelt und in Testaufgaben übersetzt. Die Entwicklung dieser Modelle basiert jeweils auf Übereinkünften darüber, was als notwendiges Minimalwissen und -können für ein bestimmtes Kompetenzniveau anzusehen ist. Diese Übereinkünfte sind daher nicht frei von Machtbeziehungen, da sie von gesellschaftlichen und kulturellen Eliten ausgehandelt werden. Als Konsequenz daraus können quantitative Assessments jeweils nur einen Teil der tatsächlichen L. bzw. N. abbilden; literale und numerale Praktiken (s. u.) bleiben unsichtbar.

Auf Deutschland bezogene bzw. Deutschland einbeziehende Kompetenzstudien der letzten Jahre waren die Studie Programme for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC) der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) mit den Bereichen Lesen, Alltagsmathematik und Problemlösen am Computer (Rammstedt, 2013) und die Level-One (LEO) Studien mit den Bereichen Lesen und Schreiben (Grotlüschen & Buddeberg, 2020). Auf Basis derartiger bevölkerungsrepräsentativer Datensätze lassen sich literale und numerale Kompetenzen spezifischer Subpopulationen beurteilen und mögliche Teilhabeeinschränkungen identifizieren. Bei der Auswertung der PIAAC-Daten wurde eine hohe Korrelation literaler und numeraler Kompetenzen festgestellt. Verallgemeinert weisen die Ergebnisse der Studien auf größere Bevölkerungsanteile mit geringer literaler und geringer numeraler Kompetenz hin. In beiden Domänen rangiert Deutschland im internationalen Vergleich im Mittelfeld der untersuchten Länder.

Die Verschiedenartigkeit literaler und numeraler Praktiken kann mittels qualitativer Methodik erfasst werden. Hier eignet sich der Theoriediskurs der sozialen Praktiken. Diese theoretische Gegenperspektive zu den bevölkerungsrepräsentativen Kompetenzstudien wurde zunächst in Untersuchungen aus England im Rahmen der New Literacy Studies eingenommen (Street, 2003). Diese Forschungsrichtung, die einen soziokulturellen Zugang zur L. eröffnet, versteht L. und N. als soziale Praktiken. Dabei ist die Diskussion um L. als soziale Praxis stärker verbreitet und prominenter geführt als jener um N. als soziale Praxis (Grotlüschen, Buddeberg & Kaiser, 2019).

Literatur

Grotlüschen, A. & Buddeberg, K. (Hrsg.). (2020). LEO 2018: Leben mit geringer Literalität. Bielefeld: wbv Publikation.

Grotlüschen, A., Buddeberg, K. & Kaiser, G. (2019). Numeralität – eine unterschätzte Domäne der Grundbildung? Zeitschrift für Weiterbildungsforschung (ZfW), 42(3), 319–342.

Rammstedt, B. (Hrsg.). (2013). Grundlegende Kompetenzen Erwachsener im internationalen Vergleich.
Ergebnisse von PIAAC 2012
. Münster: Waxmann.

Street, B. (2003). What’s “new” in the New Literacy Studies. Critical approaches to literacy in theory and practice. Current Issues in Comparative Education, 5(2), 77–91.

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