Lesegesellschaften

Elisabeth Meilhammer

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-190

Der Begriff L. ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche Vereinigungen von Lesern (weniger auch Leserinnen), die dem Zweck dienten, durch Bereitstellung von Büchern und Zeitschriften das gesteigerte Bedürfnis nach und die Kommunikation über Literatur bei erschwinglichem Kostenaufwand zu befriedigen und dabei zugleich eine geistig anregende und gesellige Gemeinschaft herzustellen. Seit dem frühen 18. Jh. sind L. in vielen Ländern Europas nachgewiesen. In Deutschland entstanden sie ab Mitte des 18. Jh., wobei sie sich vom protestantischen Norden aus im Land verbreiteten. Allerdings hatten sich bis 1800, nicht selten unter dem Druck staatlicher Zensur, viele L. (in Deutschland mehr als 430) wieder aufgelöst; z. T. konnten sie sich aber bis ins 19. Jh. oder sogar bis heute unter Neuausrichtung ihres Profils erhalten.

Der typische Charakter von L. ist der von exklusiven Mitgliedergesellschaften, die auf private Initiative hin entstanden sind und selbstorganisiert waren. Am häufigsten setzte sich die Mitgliedschaft von L. aus Männern des mittleren und gehobenen Bürgertums zusammen, wozu insb. Beamte, Ärzte, Pfarrer, Offiziere, Professoren, Buchhändler, Kaufleute und Schulmeister, vereinzelt auch Handwerker, zu zählen sind. Der faktische oder auch in Statuten festgehaltene Ausschluss von Frauen aus den L. war weithin üblich, wenngleich nicht ausnahmslos der Fall; vereinzelt gab es auch eigene Frauenzimmer-L. Seit dem Ende des 18. Jh. sind in Deutschland auch Handwerker-L. nachweisbar.

Zum Literaturangebot in L. gehörten Monografien, Nachschlagewerke und v. a. Periodika. Dabei handelte es sich um allgemeinbildend-belehrende, unterhaltsame und fachwissenschaftliche Schriften.

Folgende Haupttypen von L. können unterschieden werden: (1) der aus Gemeinschaftsabonnements entstandene Lesezirkel, der den geregelten Umlauf von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften unter seinen Mitgliedern organisierte; (2) die Lesebibliothek (Bibliothek) als feststehendes Zentrum, deren Mitglieder ihre Lektüre aus dem vorhandenen Angebot selbst aussuchten und mitnahmen; (3) das Lesekabinett, das vornehmlich in Großstädten entstand und solche L. bezeichnet, die über eigene Lese- und Diskussionszimmer, zuweilen auch Räume für Sammlungen („Museum“), verfügten; (4) die am weitesten entwickelte Form von L., die neben der Bereitstellung von Literatur und Clubräumen ihren Mitgliedern ein zusätzliches kulturelles Veranstaltungsprogramm bot. Eine Sonderform der L. stellten die in ländlichen Gegenden anzutreffenden Aufklärungs-L. dar, wobei Akademiker (v. a. Geistliche, Ärzte und Lehrer) die Lektüre für das Volk auswählten, durch zusätzliche belehrende Gespräche zu vertiefen suchten und z. T. auch den Bauern vorlasen (Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – bis 1918).

Die explosionsartige Entstehung von L. in allen großen, aber auch in vielen kleineren Städten – in Deutschland gab es vor 1760 fünf Neugründungen, zwischen 1760 und 1770 acht, zwischen 1770 und 1780 ca. 50, zwischen 1780 und 1790 ca. 170, zwischen 1790 und 1800 ca. 200 (Prüsener, 1972, S. 412) – weist neben einer zunehmend verbreiteten Lesefähigkeit (Literalität – Numeralität), einem gesteigerten Lesewillen (in konservativen Kreisen kritisch als „Lesesucht“ oder „Lesewut“ apostrophiert) und einem verstärkten Heraustreten aus den Grenzen der Familie und Stände auf veränderte Lesegewohnheiten und Lesebedürfnisse hin: Die intensive Lektüre weniger „beständiger“ Bücher nahm zugunsten einer mehr extensiven, auch aktuellen Lektüre ab. Diesen Veränderungen entspricht aufseiten des Verlagswesens eine gesteigerte und schnellere Produktion und effektivere Verbreitung von Lesestoff.

Die L. sind Ausdruck der Aufklärung und eines mit dieser verbundenen rationalen Drangs nach Information, Wissen und Bildung, z. T. auch beruflicher Fortbildung. Dienten die L. insb. der Selbstbildung ihrer Mitglieder, so sind darüber hinaus auch Bestrebungen einiger L. überliefert, die auf die Bildung des „Volkes“ gerichtet waren. Bildungsgedanke und Organisationsform der L. können auch als eine Wurzel für die Entstehung von Vereinen der Arbeiterbildung gesehen werden.

Zwischen der Herausbildung von L. und der Entstehung moderner, bürgerlich geprägter Gesellschaften in Europa besteht ein zentraler Zusammenhang; er zeigt sich sowohl in der sozialen Organisation (L. sind Vorläufer des modernen Vereinswesens) als auch in der kulturellen Prägung bürgerlicher Mentalitäten. L. stellen einen frühen sozialen Kristallisationskern des bürgerlichen „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) dar und finden nicht zuletzt unter diesem Aspekt über das Interesse der Bildungsgeschichte hinaus Aufmerksamkeit in der Forschung.

Literatur

Dann, O. (Hrsg.). (1981). Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. München: C. H. Beck.

Kaiser, A. (Hrsg.). (1989). Gesellige Bildung. Studien und Dokumente zur Bildung Erwachsener im 18. Jahrhundert. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Prüsener, M. (1972). Lesegesellschaften im achtzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur Lesergeschichte (zugl. Diss., LMU München, Sonderdruck aus: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. XIII, Lfg. 1–2). Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung.

Reinhardt, U. (2003). Bildung und Unterhaltung. Kritische Analyse von Konzepten und Projekten aus erziehungswissenschaftlicher Sicht (Diss.). Hamburg: Universität Hamburg.

Lernverhalten
Lifelong learning