Lernkultur

Rolf Arnold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-183

Das dem Begriff L. zugrundeliegende Kulturverständnis ist nicht das der „schönen Künste“, sondern das der Alltagskultur, wie es durch die Ethnomethodologie, durch die phänomenologische Wissenssoziologie (Phänomenologie) und durch den symbolischen Interaktionismus der 1970er Jahre auch in die Erwachsenenbildung Eingang gefunden hat. Bezieht man diesen Blick auf die Bereiche Bildung und Lernen, so lassen sich auch hier überlieferte Plausibilitäten, vermeintliche Gewissheiten und Aktionsmuster zum Thema Lernen identifizieren, die i. d. R. nicht oder erst bei reflexiver Analyse fragwürdig werden. Solche unausgesprochenen Vertrautheiten bzw. Selbstverständlichkeiten konstituieren auch die L., wobei insb. die folgenden Aspekte von grundlegender Bedeutung sind:

  1. Die Trennung von Lehren und Lernen: Damit gehen zwei folgenreiche Konnotationen einher: einerseits die, dass, wer lernt, nicht lehrt, andererseits die, dass Lehre eine zwangsläufige Bedingung von erfolgreichem Lernen ist. Es sind diese Differenzierungen bezüglich der Zusammenwirkung von Lehren und Lernen, auf die es zurückzuführen ist, dass in Bildungssystemen moderner Gesellschaften eher eine Belehrungskultur als eine L. vorzufinden ist. Diese Trennung von Lehren und Lernen wurde durch die Einsichten in die hohen Anteile informeller Lernprozesse bei der Kompetenzentwicklung (Kompetenz) im Lebenslauf sowie durch die erleichterte Zugänglichkeit von Wissen und Selbstbildungsmöglichkeiten über Online-Angebote (digitales Lernen) teilweise erheblich aufgeweicht. Gleichzeitig begann sich die Rolle der Lehrenden hin zu Lernbegleitenden zu verändern.
  2. Das Lernen im Gleichschritt bzw. die Synchronizität des Lernens: Dieser Synchronizität liegt die Annahme zugrunde, dass auch institutionalisiertes Erwachsenenlernen in Form einer parallelen Gleichschaltung der individuellen Lernbewegungen geschehen kann. Deshalb hat sich auch lange Zeit das aus der Schulpädagogik bekannte Unterrichtsgespräch als vermeintlicher Dialog mit dem Lernenden halten können. Aus der Lehr-Lern-Forschung ist bekannt, dass sich bei diesem Dialog die Seite des Lernenden oft nur sehr „einsilbig“ einzubringen vermag, weshalb es sich in Wahrheit eher um einen Frontalunterricht (Unterricht) als um einen Dialog handelt. In der Erwachsenen- und Weiterbildung war diese Synchronizität allerdings immer schon infrage gestellt, da es in der Arbeitsgemeinschaft auch weitgehend den Lernenden vorbehalten blieb, die Richtung, Geschwindigkeit und Vertiefung des gemeinsamen Lernprozesses zu gestalten und dadurch auch eine stärkere Individualisierung des Lernens zu ermöglichen.
  3. Der einseitige Methodenbesitz im Lehr-Lern-Prozess: Damit ist gemeint, dass es i. d. R. die Dozenten, Lehrenden und Kursleitenden sind, die über den Einsatz der Lernmethoden (Methoden) entscheiden. Diese Einseitigkeit wird allerdings mehr und mehr zum Problem in einer gesellschaftlichen Entwicklung, die darauf angewiesen ist, dass ihre Bürgerinnen und Bürger über die Fähigkeiten zum selbstgesteuerten Lernen (Selbstorganisation – Selbststeuerung – Selbstlernen) und zum lebenslangen Lernen (lifelong learning) – d. h. über Selbstlernkompetenzen – verfügen. Deshalb rückte seit den 1990er Jahren auch verstärkt die Methodenkompetenz der Lernenden in den Fokus, und man begann, in Selbstlernarrangements die Erweiterung dieser Selbstlernfähigkeiten gezielt zu unterstützen.
  4. Die Fixierung auf Lerngegenstände bzw. Lerninhalte (Inhalte – Themen): Das deutsche Bildungssystem ist immer noch auf allen seinen Ebenen mehr oder weniger stark von der Vorstellung geprägt, dass es einen Bestand an inhaltlichen „Errungenschaften“ (z. B. Kulturinhalten, Standards) gibt, der es wert ist, an die Lernenden vermittelt zu werden. Auch die sich auf die Wissenschaftlichkeit des Arguments beziehende Aufklärungsbestrebungen der Erwachsenenbildung setzten nahezu ausschließlich auf die inhaltlichen Dimensionen von Weltverstehen und Reflexion. Durch eine solche Fokussierung auf die Inhalte des Lernprozesses wird die L. zu einer „Überlieferungskultur“. Die Erwachsenenbildung war und ist überall dort gegen eine solche Verkürzung gefeit, wo sie ihre Angebote als Realitäts- und Identitätsarbeit (Identität) begründet. Allmählich wird aber auch in der beruflichen Weiterbildung sowie in der wissenschaftlichen Weiterbildung (Koller, 2021) mehr die Einseitigkeit, Unzeitgemäßheit und Unvollständigkeit des mit einer Inhaltsfixierung verbundenen learning from the past erkannt, und es reift auch in den einschlägigen Debatten mehr und mehr die Einsicht, dass Bildung in einer Gesellschaft mit exaltierenden Alterungsraten des Wissens in anderer Weise gestaltet und begründet werden muss: Mit „Bildung [ist] mehr als Fachlichkeit“ ist dieser Aufbruch in eine neue L. überschrieben (vbw, 2015).

Literatur

Arnold, R. (2017). Entlehrt euch! Ausbruch aus dem Vollständigkeitswahn. Bern (CH): hep.

Fleige, M. & Robak, S. (2018). Lehr-Lernkultur in der Erwachsenenbildung. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., Bd. 1, S. 623–641). Wiesbaden: Springer VS.

Koller, J. (2021). Vernetzte Lernkulturen. Eine Studie zu Konstruktionsweisen mediatisierter Lernkulturen in der wissenschaftlichen Weiterbildung. Wiesbaden: Springer.

Schüßler, I. & Thurnes, C. M. (2005). Lernkulturen in der Weiterbildung (Reihe Studientexte für Erwachsenenbildung, Bd. 2). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft. (Hrsg.). (2015). Bildung. Mehr als Fachlichkeit. Gutachten. ­Mün­ster: Waxmann.

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