Leitstudien

Rudolf Tippelt & Erhard Schlutz †

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-177

Als L. kann man solche Forschungsarbeiten bezeichnen, die für eine Disziplin einen großen Anregungs- und Vorbildcharakter haben. Dieser ist nicht nur von der Relevanz der Fragestellung, der Differenziertheit der Forschungsmethoden und dem Gehalt der Ergebnisse abhängig, sondern auch von der (zeitbedingten) Empfänglichkeit und Interaktionsdichte der wissenschaftlichen Gemeinschaft. L. tragen zur Diskurskontinuität (Diskurs) und Identität einer Wissenschaftsdisziplin bei und zeichnen sich durch eine hohe theoretische Qualität und eine verständliche Wissenschaftssprache aus.

Bis in die 1990er Jahre konnte man in der Erwachsenen- und Weiterbildung nur einige wenige L. benennen; dies hat sich aber in den letzten 30 Jahren grundlegend verändert. Die Erwachsenenbildung ist durch eine starke Erweiterung des Wissens in der Forschung und durch deutliche Veränderungen in der Praxis geprägt. Dadurch haben sich die grundlegenden Forschungsthemen stark differenziert.

Traditionell wird die Göttinger Studie „Bildung und gesellschaftliches Bewußtsein“ (Strzelewicz, Raapke & Schulenberg, 1966) als eine Leitstudie der Erwachsenenbildungswissenschaft bezeichnet. In dieser Studie wurde nach den Bildungsvorstellungen und der Bildungsbereitschaft der Bevölkerung in Deutschland in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre gefragt. Sie bestand aus bildungstheoretischen Grundlagen und drei empirischen Stufen: einer repräsentativen Befragung, 34 Gruppendiskussionen und 38 Einzelinterviews. Die Göttinger Untersuchung hatte besondere Wirkungen auf Wissenschaft und Praxis der Erwachsenenbildung. Dass Weiterbildungsbereitschaft weniger durch Appelle als durch Verbesserung der sozialen Faktoren zu verstärken ist, ist seitdem ebenso Gemeingut wie die Vorstellung, dass Weiterbildung nicht nur ein Hobby, sondern eine ernsthafte lebensbegleitende Arbeit ist (lifelong learning). Insofern trug die Untersuchung auch zur „realistischen Wende“ der Erwachsenenbildung bei.

Bis in die 1980er Jahre hinein konnte man auch die erste große Studie zum „Lehr- und Lernverhalten bei Erwachsenen“ von Siebert und Gerl (1975) als Leitstudie bezeichnen. Die Untersuchung ging ebenfalls in drei Stufen vor: Beobachtung von 22 Kursen (standardisiertes Verlaufsprotokoll), Anfangs- und Schlussbefragung (Fragebögen) von 700 bzw. 400 Teilnehmenden sowie sog. Experimentalseminare zur Erhöhung der Kurssteuerung durch die Teilnehmenden. Eine Stärke der Untersuchung war der mögliche Vergleich zwischen Beobachtung und Befragung, also die Spannung zwischen Außen- und Innenwahrnehmung.

In ähnlicher Weise an den Partizipationsmöglichkeiten der Lernenden interessiert war das Projekt „Bildungsurlaubs-Versuchs- und Entwicklungsprogramm (BUVEP)“ (Kejcz et al., 1979–1981). Dieses ging jedoch qualitativ vor, indem es 47 zweiwöchige Bildungs­urlaubsseminare (Bildungsurlaub) vollständig protokollierte. Diese Texte wurden unter zwei Aspekten inhaltsanalytisch untersucht: nach Schlüsselsituationen der Teilnehmerorientierung und nach Typen von Lernstrategien. Diese Studie kann als ein Nachweis der Schwierigkeiten pädagogischen Bemühens als auch als Kritik an belehrenden Formen politischer Bildung betrachtet werden.

Angesichts des enormen Differenzierungsprozesses in der quantitativen und qualitativen Weiterbildungsforschung und der deutlich dichteren theoretischen und empirischen Befundlage muss das traditionelle Konzept der L. mittlerweile durch „systematische Übersichtsstudien“ und in einigen Bereichen durch statistisch orientierte „Metaanalysen“ ergänzt oder auch ersetzt werden. Es ist heute also nicht mehr hinreichend, in der Erwachsenenbildung von einer bis fünf L. zu sprechen. Sinnvoller ist es, die Teilbereiche der Erwachsenenbildungsforschung (Weiterbildungsforschung) im Blick zu haben und in diesen Bereichen jeweils Studien zu diskutieren, die hohen Forschungsstandards und den o. g. Kriterien entsprechen. Sichtet man einschlägige Handbücher der Erwachsenen- und Weiterbildung (z. B. Tippelt & Hippel, 2018), liegen solche systematischen Übersichtsstudien u. a. in den Bereichen der Lehr-Lern-Forschung, der Organisationsforschung, der institutionellen Kooperationsforschung, der quantitativen und qualitativen Forschung zu Adressaten (Adressatenforschung), Teilnehmern, Zielgruppen (z. B. Milieus, Altersgruppen) sowie sozialer und regionaler Disparität, der Kompetenzforschung (z. B. Alphabetisierung – Grundbildung; Literalität – Numeralität) und der Beratungs- und der Professionalisierungsforschung (Professionalisierung) vor. Diese Felder weisen eine hohe Forschungsdichte auf bzw. können die dort angesiedelten Studien kumulativ weiterentwickelt werden. Die reine Fokussierung auf wenige L. würde heute eine Reduktion der tatsächlichen – und sicher ausbaufähigen – Befundlage bedeuten.

Literatur

Kejcz, Y., Monshausen, K.-H., Nuissl, E., Paatsch, H.-U. & Schenk, P. (1979–1981). Bildungsurlaubs-Versuchs- und Entwicklungsprogramm der Bundesregierung (8 Bde.). Heidelberg: Esprint.

Siebert, H. & Gerl, H. (1975). Lehr- und Lernverhalten bei Erwachsenen. Braunschweig: Westermann.

Strzelewicz, W., Raapke, H.-D. & Schulenberg, W. (1966). Bildung und gesellschaftliches Bewußtsein. Eine mehrstufige soziologische Untersuchung in Westdeutschland (Reihe Göttinger Abhandlungen zur Soziologie und ihrer Grenzgebiete, Bd. 10). Stuttgart: Enke.

Tippelt, R. & Hippel, A. von (Hrsg.). (2018). Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (Reihe Springer Reference Sozialwissenschaften, 6., überarb. u. akt. Aufl., 2 Bde.). Wiesbaden: Springer VS.

Lehr-Lern-Ziele
Leitung – Management