Ortfried Schäffter
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-172
Bei der L. handelt es sich um keinen territoralräumlich bestimmbaren Ort, den man aufsuchen oder verlassen kann; vielmehr bekommt man es mit einem hoch abstrakten Grundbegriff der → Phänomenologie Edmund Husserls zu tun. Von dieser nahm eine Vielzahl konzeptionell unterschiedlicher Ansätze ihren Ausgang, was zu einem sich breit entfaltenden Begriffsverständnis führte.
In seinem paradigmatischen Kern bezeichnet L. die sog. Generalthesis fraglos erscheinender Gültigkeit von einer Sicht auf die Welt, wie sie in natürlicher Einstellung in Erscheinung tritt und als real erlebt wird. Als epistemisch-ontologische Kategorie bietet damit L. einen fundierenden Grund, aus dem heraus sich sowohl alltäglich unspezifische Handlungsroutinen (→ Habitus) als auch funktional ausdifferenzierte → Systeme mit spezifischen Codes, Kommunikationsmedien und Programmen institutionalisierend herauszubilden vermögen. Hierdurch stellt L. für Husserl und seine Nachfolgerinnen und Nachfolger eine letztbegründende Anfangsinstanz dar. Die L. ist für sie die selbstverständliche Vorbedingung jeglichen alltäglichen Denkens und Handelns, aber auch jeder sich vom Alltagswissen (→ Wissen) kontrastiv abstoßenden wissenschaftlichen Erkenntnispraxis.
In seinen kulturkritischen Überlegungen zur „Krise der Europäischen Wissenschaften“ führt Husserl die von ihm diagnostizierten Fehlentwicklungen darauf zurück, dass den positiven und empirischen Wissenschaften der Bezug zu eben dieser sie konstituierenden „primordialen Sphäre“ verloren gegangen und daher wissenschaftstheoretisch nicht mehr verfügbar sei. Die Entwicklung einer methodischen Reduktion in Form einer sog. Epoché stellt hierzu den ersten Versuch einer Antwort dar, der sich im Entwicklungsverlauf sich ausfächernder phänomenologischer Ansätze fortsetzt. Dadurch hat die Kategorie L. inzwischen einen breiten Bedeutungswandel erfahren, der viele Kontroversen auslöst. Grundsätzlich bezieht sich L. auf die Tiefenstruktur eines „In-der-Welt-Seins“ (Martin Heidegger), wodurch L. in dieser Bedeutung eine Nähe zu Ludwig Wittgensteins Konstrukt des Sprachspiels aufweist.
Aus Sicht der → Erwachsenen- und Weiterbildung ist festzuhalten, dass das alltägliche Leben und somit auch alltagsgebundenes → Lernen nicht gleichzusetzen sind mit dem Konstrukt der L. Vielmehr geht es beim Begriff → Alltag um unspezifische Handlungsroutinen, die einerseits in lebensweltliche, andererseits aber auch in funktionssystemische Kontexte eingebettet sein können. Institutionstheoretisch gefasst, kommt lebensbegleitender Bildung (→ lifelong learning) neben ihrer Reproduktionsfunktion für die nachwachsenden → Generationen zunehmend auch eine Reflexionsfunktion zu, die sie im Wechselverhältnis zwischen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozessen (→ sozialer Wandel) und den individuell lernbiografischen Entwicklungsverläufen (→ Biografie) zu übernehmen hat. Lebensweltbezogene Erwachsenenbildung kann in dieser Funktion eine Veränderung der eingelebten → Deutungsmuster in der Weise kontingent werden lassen, dass Menschen ihre L. auf neue Weise sehen lernen und sie hierdurch in veränderter Weise zu leben und praktisch auszugestalten vermögen (Arnold, 1989).
Analog zur erkenntnistheoretischen Methode der phänomenologischen Epoché im Wissenschaftssystem fungiert Erwachsenenbildung im Bildungssystem in Kontexten lebensbegleitenden Lernen (→ Weiterbildungssystem) als ein lebensweltbezogener Erkenntnisprozess. In Gegensatz zu dem hierbei herangezogenen Konzept der „stellvertretenden Deutung“ von Ulrich Oevermann zeichnet sich aus heutiger Sicht allerdings eine dialogisch angelegte Verfahrensweise relationaler Angebotsentwicklung (→ Angebot) ab (Schäffter, Schicke & Hartmann, 2018). Mit ihr lässt sich der lebensweltliche Standpunkt einer Gruppe von Bildungsadressatinnen und -adressaten durch eine lernförmige Analyse ihrer jeweiligen transitorischen Lebenslage als komplementäre Planungsressource ko-produktiv einbeziehen (→ Zielgruppenorientierung). Erwachsenenbildung kann mit dem Verfahren einer „Transitionsanalyse“ (Schäffter, 2019) eine reflexiv lebensbegleitende und damit eine L. transformierende Funktion erfüllen. Die L. wird damit als „Lernwelt“ (Felden, 2015) pädagogisch zugänglich und als transformativer Übergang explorativ ausgestaltbar.
Literatur
Arnold, R. (1989). Lebensweltbezogene Erwachsenenbildung. Zu den Implikationen eines didaktischen Anspruchs. Zeitschrift für internationale erziehungs- und sozialwissenschaftliche Forschung, 6(1), 29–51.
Felden, H. von (2015). Lernwelten und Transitionen. Übergangsforschung als Lernweltforschung. In S. Schmidt-Lauff, H. von Felden & H. Pätzold (Hrsg.), Transitionen in der Erwachsenenbildung. Gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Übergänge (S. 71–83). Opladen: Barbara Budrich.
Schäffter, O. (2019). Transitionsanalyse, Komplementäres Denken in Übergängen. In K. Obermeyer & H. Pühl (Hrsg.), Übergänge in Beruf und Organisation. Umgang mit Ungewissheit in Supervision, Coaching und Mediation (S. 199–226). Gießen: Psychosozial-Verlag.
Schäffter, O., Schicke, H. & Hartmann, T. (2018). Biografische Übergangszeiten – Ermöglichungsraum für Bildung: Eckpunkte einer pädagogischen Konzeption der Zielgruppenentwicklung zur Professionalisierung von Programmplanung und Angebotsentwicklung. Erwachsenenbildung, 64(3), 112–115.