Cordula Artelt
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-171
Unter einem L. oder „Lebensverlauf“ kann die Kumulation von im Laufe des Lebens getroffenen Entscheidungen verstanden werden. Beim Lebensverlauf handelt es sich um die Abfolge sinnhaft strukturierter individueller Lebensereignisse und Phasen einer Person; der Begriff L. charakterisiert hingegen abstrahierte Muster von Lebensverläufen. Während L. und Lebensverlauf aufeinanderfolgende Handlungen und Phasen (sozialer Tatbestand) umfassen, bezieht sich eine → Biografie wiederum auf deren Reflexionen (subjektive Konstruktion).
Die Ausgestaltung individueller Lebensverläufe erstreckt sich über die gesamte Lebensspanne. Neben soziokulturellen und institutionellen Einflussfaktoren ist der L. durch psychische Faktoren und individuelle Voraussetzungen geprägt und weist phasenspezifische Entwicklungsaufgaben auf, zu denen u. a. die Ablösung von den Eltern, die Berufswahl und Karriere sowie die Familiengründung gehören. Institutionell begleitete Prozesse wie Bildungskarrieren, Statuspassagen, Übergangsrituale und Opportunitätsstrukturen des Arbeitsmarkts leisten dabei einen substanziellen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration und standardisieren, normieren und prägen den individuellen L. zugleich. An diesem Sozialisationsprozess (→ Sozialisation) sind mehrere pädagogische Institutionen und → Professionen beteiligt. In der ersten Lebenshälfte sind dies insb. Kindertagesstätten, das allgemeinbildende Schulwesen sowie Einrichtungen der → Berufsbildung und des Hochschulwesens. Angebote außerbetrieblicher und → betrieblicher Weiterbildung und der → Erwachsenen- und Weiterbildung fungieren als Vermittlungsinstanz im mittleren und höheren Erwachsenenalter und als wichtiger Impulsgeber von Prozessen lebenslangen Lernens (→ lifelong learning).
Charakteristisch für den L. ist, dass spätere Phasen durch frühere Zustände, äußere Ereignisse und Entscheidungen beeinflusst werden. Lebensphasen bauen somit auf früheren Entscheidungen auf, wodurch der Möglichkeitsraum im individuellen Lebensvollzug zunehmend strukturiert wird; es eröffnen sich nicht nur weitere Möglichkeiten, sondern einzelne Optionen und Wege werden auch unwahrscheinlicher oder entfallen gänzlich.
Die Betrachtung des Lebenslaufs hat auch eine historische Dimension. „Normalbiografien“ spielen heute eine geringere Rolle als zu Beginn der (soziologischen) Forschung zum L. Destandardisierung von Lebenspfaden und geringere Vorgeordnetheit des Lebenslaufs gehen einher mit einer stärkeren Rolle eines ordnenden und entscheidenden Individuums (→ Individualisierung).
Die Lebensverlaufsforschung nimmt insb. Knotenpunkte in und Übergänge zwischen unterschiedlichen Lebensphasen und Zuständen in den Blick. Dies liegt darin begründet, dass individuelles oder auch kollektives Entscheidungsverhalten im Rahmen gemeinsamer Lebensorganisation (linked lives) bei Übergängen i. d. R. langfristige Effekte für das weitere Leben hat. Untersucht wird, welche strukturellen, prozessbezogenen, individuellen und pädagogischen Faktoren den L. prägen und Einfluss auf die Entscheidungen an Gelenkstellen des Lebenslaufs haben. Bei großen und mehrere Kohorten umfassenden Lebensverlaufsstudien, zu denen in Deutschland insb. das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), die German Life History Study (GLHS) und die National Educational Panel Study (NEPS) gehören, kann dabei zusätzlich nach Alters-, Kohorten- und Periodeneffekten unterschieden werden. Dadurch kann das aus der Analyse von Lebensläufen generierbare Erklärungs- und Veränderungswissen abgesichert werden – bspw. in welchem Ausmaß Effekte von digitalen Weiterbildungsmaßnahmen (→ digitales Lernen) im Laufe des Lebens auf alterskorrelierte Entwicklungsprozesse zurückzuführen und/oder aufgrund unterschiedlicher → Generationen bzw. Kohorten und der für sie charakteristischen Einflüsse (z. B. Generation der digital natives) erklärbar und/oder durch einzelne historische, politische oder soziokulturelle Bedingungen und Ereignisse, die für alle mehr oder weniger gleich gelten (z. B. pandemiebedingter Lockdown), geprägt sind.
Für die → Weiterbildungsforschung bietet besonders die sog. Startkohorte 6 Potenzial. Diese Teilstudie des NEPS bildet Bildungs- und Erwerbsverläufe sowie die Kompetenzentwicklung (→ Kompetenz) von Erwachsenen ab und erfasst Aktivitäten → formaler, non-formaler und informeller Bildung, Kontextfaktoren und (weiter-)bildungsbezogenes Entscheidungsverhalten. Rüter (2022) konnte bspw. auf Basis der NEPS-SC6-Daten zeigen, dass das Angebot organisatorischer Unterstützung für die → Teilnahme an Erwachsenen- und Weiterbildung durch den Arbeitgeber (leave of work) den Zusammenhang zwischen individueller Teilnahmeintention und tatsächlicher Teilnahme nicht verändert. Finanzielles und organisatorisches Unterstützungsverhalten des Arbeitgebers erhöht jedoch insgesamt die Teilnahmewahrscheinlichkeit.
Der L. ist Forschungsgegenstand in unterschiedlichen Disziplinen. Während die (optimale) Gestaltung und Ausprägung von Lebensläufen primär aus pädagogischer und psychologischer Perspektive relevant ist, sind aus soziologischer und ökonomischer Perspektive die Renditen und strukturellen Bedingungen von Lebensläufen bedeutsam. Die Relevanz der Lebensverlaufsforschung für die Erwachsenenbildung ergibt sich aus der → Institutionalisierung lebenslangen Lernens. Praktisch relevant ist die Frage, welche individuellen und strukturellen Bedingungen dazu beitragen, dass Lebensläufe aus verschiedenen Perspektiven erfolgreich verlaufen.
Literatur
Blossfeld, H.-P. & Roßbach, H.-G. (Eds.). (2019). Education as a lifelong process: the German National Educational Panel Study (NEPS) (Edition ZfE, 2. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.
Dörner, O., Iller, C., Pätzold, H., Franz, J. & Schmidt-Hertha, B. (Hrsg.). (2017). Biografie – Lebenslauf – Generation. Perspektiven der Erwachsenenbildung (Schriftenreihe der Sektion Erwachsenenbildung der DGfE). Opladen: Barbara Budrich.
Kohli, M. (2003). Der institutionalisierte Lebenslauf: ein Blick zurück und nach vorn. In J. Allmendinger (Hrsg.), Entstaatlichung und Soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002 (Teil 1, S. 525–545.) Opladen: Leske + Budrich.
Mayer K. U. (2002). Zur Biografie der Lebensverlaufsforschung: ein Rückblick auf die letzten zwei Jahrzehnte. In G. Burkart & J. Wolf (Hrsg.), Lebenszeiten (S. 41–61). Wiesbaden: Springer VS.
Rüter, F. (2022). On the effect of employer offered leave of work on participation in continuing vocational education and training – investigating the intention-behavior relation. Frontiers in Psychology, 12(807809), o. S.