Konstruktivismus

Rolf Arnold

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-165

Der Begriff K. dient als zusammenfassende Bezeichnung für erkenntnis- und systemtheoretische sowie kognitionspsychologische (Kognition) und wissenssoziologische (Wissen) Ansätze, die davon ausgehen, dass die menschliche Wahrnehmung die Wirklichkeit nicht so zu erkennen vermag, wie diese ist. Seine Erkenntnisse sind, so die Leitthese des K., Produkt bzw. „Konstruktion“ seines eigenen kognitiv-emotionalen Systems. Sie sind Ausdruck seiner individuellen Gewohnheiten, Vorlieben und Strukturbesonderheiten, sich selbst und die Welt zu deuten und auszuhalten (Deutungsmuster). Die Abläufe und Wirkungszusammenhänge dieses Inneren des Beobachtenden funktionieren „selbstorganisiert“ (autopoietisch). Eine von außen an das System der kognitiv-emotionalen Strukturbesonderheiten herantretende Störung (Perturbation) kann zwar Veränderungen im System auslösen, doch kein gewolltes Ergebnis erzeugen. Die eintretenden Wirkungen hängen vielmehr von den im System bereits ausgeprägten und autopoietisch zusammenwirkenden Elementen, Strukturen und Kräften ab.

Ob das, was dabei herauskommt (z. B. Wahrnehmung), „adäquat“ ist, bemisst sich dabei nach zweierlei Gesichtspunkten: zum einen nach der Integrierbarkeit bzw. Anschlussfähigkeit des Neuen in bzw. an das Vorhandene, und zum anderen nach der Viabilität (Gangbarkeit) der Perspektiven und Handlungsweisen, die dabei in den Blick geraten und dem Denken, Fühlen und Handeln eine neue Richtung geben. Eine Person wird Nicht-Viabilität so lange als wenig anschlussfähige Störung erleben, bis es ihr gelingt, ein vorläufiges Gleichgewicht zwischen dem Innen (z. B. vorhandene Deutungen, Erfahrungen, Sichtweisen) und dem Außen (z. B. Irritationen, neue Anforderungen) zu entwickeln. Diese erkenntnispsychologischen Bewegungen wurden bereits von Jean Piaget (1896–1980) analysiert und beschrieben; sie wurden jedoch erst in den letzten Jahrzehnten von systemtheoretisch bzw. systemisch arbeitenden Autorinnen und Autoren weiterentwickelt, ergänzt und vertieft.

Überträgt man diese konstruktivistischen Grundannahmen auf die Erwachsenen- und Weiterbildung, so ergibt sich eine veränderte Sicht auf das Lernen Erwachsener. Lernprozesse können nicht länger als Aufnahme, Einprägung und Übernahme von inhaltlichen Inputs angesehen werden. Lernergebnisse werden vielmehr von den Lernenden vor dem Hintergrund ihres bereits vorhandenen Wissens und Könnens selbst konstruiert bzw. rekonstruiert. Dies bedeutet für die Lehrenden in der Erwachsenenbildung, dass sie nicht länger „instruieren“ können; sie können lediglich reichhaltige Lernarrangements gestalten, die den Erwachsenen Erschließung und Aneignung von Neuem nach den Maßgaben ihrer jeweils individuellen emotional-kognitiven Vorstrukturen und Strukturbesonderheiten sowie ihrer jeweiligen Lebenssituation „ermöglichen“. Lernen ist in konstruktivistischer Sicht somit nicht lehrdeterminiert, sondern strukturdeterminiert, d. h. in Verlauf und Ergebnissen von der jeweiligen situativen sowie kognitiv-emotionalen Lage der Lernenden abhängig. Der pädagogische K. (Arnold & Siebert, 2003) geht davon aus, dass jeder zum „Erfinder, Entdecker und Enttarner von Wirklichkeit“ (Reich, 2010) werden muss.

Die konstruktivistische Sicht auf das Erkennen und Lernen legen einen besonderen Zugang zu den Fragen des Erwachsenenlernens nahe, wie er sich in der Systemischen Pädagogik (systemische Erwachsenenbildung) andeutet (Arnold, 2019a). Dabei werden auch die Ergebnisse der neurophysiologischen Kognitionsforschung sowie der Emotionsforschung aufgegriffen, welche besagen, dass das menschliche Gehirn in hohem Maße from inside out agiert, weshalb auch eine nachhaltig transformative Kompetenzentwicklung (transformative Erwachsenenbildung) ohne eine Stärkung der inneren Kräfte und Potenziale nicht wirklich gelingen kann. Diese Überlegungen werden vom emotionalen K. (Arnold, 2019b) aufgegriffen: Kompetenzentwicklung (Kompetenz) – so die These – ist von dem bisherigen Selbstwirksamkeitserleben und soziale Kompetenzen von den früh eingespurten Formen des Umgangs grundlegend (vor-)geprägt. Im besonderen Maße gilt dies für die emotionale Kompetenz (Emotion – emotionale Kompetenz), die zudem wieder mehr und mehr als das Erleben und das Lernen des Subjekts durchwirkende Größe in den Blick gerät. Dabei wird deutlich, dass sich Erwachsenenbildung an dem systemischen Eingebundensein in Gefühlswelten der Lernenden bewusst orientieren muss, wenn wirklich nachhaltige Kompetenzentwicklung gelingen soll.

Literatur

Arnold, R. (2019a). Another Brick in the Wall. Zugänge zur Systemischen Pädagogik. Baltmannsweiler: Schneider.

Arnold, R. (2019b). Seit wann haben Sie das? Grundlinien eines Emotionalen Konstruktivismus (3. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.

Arnold, R. & Siebert, H. (2003). Konstruktivistische Erwachsenenbildung. Von der Deutung zur Konstruktion der Wirklichkeit (4. Aufl.). Baltmannsweiler: Schneider.

Reich, K. (2010). Erfinder, Entdecker und Enttarner von Wirklichkeit. Das kognitiv-konstruktivistische Verständnis von Lernen und Lehren. Pädagogik, 62(1), 42–47.

Konfessionelle Erwachsenenbildung
Kreativität