Katharina Walgenbach
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-155
Unter I. lässt sich verstehen, dass historisch gewordene soziale Ungleichheiten, Macht- und Diskriminierungsverhältnisse sowie hierarchisierte Subjektpositionen, die sich auf Kategorien wie Geschlecht, soziales Milieu, Schicht oder Klasse, Ethnizität, Race oder Nation, Behinderung, Sexualität usw. beziehen, nicht isoliert voneinander oder additiv konzeptualisiert werden können, sondern in ihren Überkreuzungen oder Interdependenzen analysiert werden müssen (Walgenbach, 2014, S. 54–55).
Für die deutschsprachige Erwachsenenbildung ist I. sowohl historisch bzw. geografisch als auch disziplinär ein „Travelling Concept“. Der Terminus intersectionality wurde 1989 von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw eingeführt. Er sollte die besonderen Konstellationen hervorheben, die sich durch die Überkreuzung (intersection) von Diskriminierungsformen ergeben. Crenshaw verwendete zur Erläuterung des Begriffs die Metapher einer Straßenkreuzung, bei der sich bspw. die Diskriminierungslinien race und gender kreuzen. Hiermit wollte Crenshaw zum einen das besondere Vulnerabilitätsrisiko auf der Kreuzung sichtbar machen, zum anderen arbeitete sie damit ein problematisches Gleichheits-Differenz-Paradox für Schwarze Frauen im US-amerikanischen Antidiskriminierungsrecht heraus.
Das Paradigma I. wendet sich somit gegen eindimensionale Analyseperspektiven, → Zielgruppenorientierung oder Programm- und Angebotsstrukturen (→ Angebot; → Programme). Bezogen auf die → Erwachsenen- und Weiterbildung bedeutet dies z. B., dass Bildungsangebote für „die Arbeiter“ oder „die Frauen“ zu kurz greifen, da es sich um keine homogenen Gruppen handelt. Des Weiteren werden Begriffe wie „Doppeldiskriminierung“ in der Intersektionalitätsdebatte problematisiert, da sie lediglich eine Addition von Differenzkategorien nahelegen. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass das gleichzeitige Zusammenwirken von Ungleichheitskategorien spezifische bzw. andere Machtkonstellationen hervorbringt. In der Folge geht es bei I. nicht allein um den Einbezug mehrerer sozialer Kategorien, sondern insb. um die Analyse ihrer Wechselbeziehungen. I. bietet hier zahlreiche Anschlüsse an ungleichheitskritische Forschungstraditionen in der Erwachsenenbildung, z. B. → Arbeiterbildung, → Milieuforschung, → Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung, → Migration, → interkulturelle Erwachsenenbildung, → Generation, → Gender in der Erwachsenenbildung oder → Inklusion und Diversität.
In der deutschsprachigen Erwachsenenbildung wird I. noch eher als zukünftige Forschungsperspektive identifiziert. Das besondere Potenzial wird in der → Adressatenforschung und Zielgruppenorientierung, in der Reflexion von Lern-, Partizipations- und Teilhabechancen Erwachsener oder im → biografischen Lernen gesehen (Schlüter, 2010). Des Weiteren wird I. mit der Entwicklung von Diversity-Kompetenzen in der → Hochschuldidaktik bzw. → wissenschaftlichen Weiterbildung in Verbindung gebracht. In der pädagogischen Praxis der Erwachsenenbildung wird I. insb. in der Antidiskriminierungspädagogik sowie in der geschlechter- und diversitätsreflektierenden Weiterbildung produktiv gemacht.
International weist die Forschungsliteratur zu intersectionality in Verbindung mit adult education, further education oder → lifelong learning vergleichbare Themenfelder auf (Merrill & Fejes, 2018). I. wird auch international als Forschungsdesiderat identifiziert. Es finden sich aber im angloamerikanischen Sprachraum bereits eine Reihe von Studien, die I. explizit zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen machen. Dabei wird mitunter auch die Kategorie Alter als intersektionale Ungleichheitskategorie einbezogen. Des Weiteren finden sich im internationalen Diskurs Bezüge zur kritischen Erwachsenenbildung, z. B. im Kontext von → transformativer Erwachsenenbildung, Social Movement Learning, Adult Environmental Education oder Critical Human Resource Development.
Literatur
Merrill, B. & Fejes, A. (Eds.). (2018). Intersectionality and adult education. European Journal for Research on the Education and Learning of Adults, 9, 7–11.
Schlüter, A. (2010). Didaktische Kompetenz und Intersektionalität. In N. Auferkorte-Michaelis, A. Ladwig & I. Stahr (Hrsg.), Hochschuldidaktik für die Lehrpraxis. Interaktion und Innovation für Studium und Lehre an der Hochschule (S. 157–168). Opladen: Barbara Budrich.
Walgenbach, K. (2014). Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft (utb 8546). Opladen: Barbara Budrich.