Interpretatives Paradigma

Sigrid Nolda

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-154

Mit der Hinwendung zur soziologischen Richtung des symbolischen Interaktionismus hat die Erwachsenenbildung in den 1970er Jahren versucht, die prinzipielle Deutungsabhängigkeit der Wirklichkeit für die Erforschung des Lehrens und Lernens Erwachsener inner- und außerhalb von Institutionen zu nutzen.

Der Begriff i. P. ist von Thomas P. Wilson verwendet worden, um den spezifischen Zugang des symbolischen Interaktionismus in Abgrenzung zu Ansätzen zu kennzeichnen, die er dem sog. normativen Paradigma zugeordnet hat. Diese Ansätze gehen davon aus, dass Menschen Situationen und Handlungen in der gleichen Weise definieren. Sie tun dies als Mitglieder einer Gesellschaft, die von einem verbindlichen System von Symbolen und Bedeutungen bestimmt wird. Handelnde sind demnach mit bestimmten erworbenen Dispositionen ausgestattet und mit bestimmten Rollenerwartungen konfrontiert. Dispositionen sind Regeln, die von Handelnden erlernt oder übernommen werden; Erwartungen sind Regeln, die in einem sozialen System institutionalisiert wurden.

Fasst man demgegenüber eine Interaktion als interpretativen Prozess auf, so geht es nicht um die Ausführung einer Rolle, sondern darum, dass die Beteiligten ihre Handlungen aufeinander beziehen und abstimmen. Ein solcher Prozess folgt keinem vorgegebenen Schema, sondern besteht in wechselseitigen Redefinitionen von Handlungen und Situationen. Um Realität zu erkennen, müssen deshalb die Interpretationen der Handelnden ermittelt werden. Der Deutungsleistung der im Alltag Handelnden entspricht die rekonstruierende Deutungsleistung von Forschenden.

Die auf dieser Grundlage entwickelten Methoden der qualitativen Sozialforschung (Forschungsmethoden) – wie teilnehmende Beobachtung, Gruppendiskussionen, (narrative) Interviews, Analysen von Dokumenten und Interaktionsprotokollen und -aufnahmen – sind von der Erwachsenenbildungswissenschaft für ihre Zwecke genutzt worden: für die Analyse von Präsenzkursen und Beratungen, von Lebenswelten von Adres­satinnen und Adressaten (Adressatenforschung) und Teilnehmenden sowie von professionell in der Erwachsenenbildung Tätigen, aber auch von Lehr-Lern-Situationen außerhalb von erwachsenenpädagogischen Institutionen. Eine besondere Rolle spielt dabei die Biografieforschung (Biografie), während ethnografische Untersuchungen von erwachsenenpädagogisch relevanten Lebenswelten und Diskursanalysen (Diskurs) von vorgefundenen oder erhobenen Texten zur Erwachsenenbildung noch eher rar sind.

Theoretische Bezugspunkte sind neben dem symbolischen Interaktionismus v. a. der Deutungsmusteransatz (Deutungsmuster), der Pragmatismus und der Konstruktivismus. Obwohl vom symbolischen Interaktionismus als solchem immer weniger die Rede ist, finden sich seine Grundprinzipien in vielen später entwickelten Ansätzen, z. B. dem Neo-Institutionalismus oder der Hermeneutischen Wissenssoziologie, sodass immer noch zwischen interpretierend-sinnverstehenden vs. abbildend-beschreibenden und messenden Verfahren unterschieden wird.

Eine besondere Anwendung des interpretativen Paradigmas kann in seiner konkreten didaktischen Nutzung (Didaktik – Methodik) gesehen werden: in Veranstaltungen der Erwachsenenbildung, in denen explizites Deutungslernen gefördert wird, sowie in Interpretationswerkstätten, in denen Dokumente aus der Praxis der Erwachsenenbildung im Hinblick auf ihre verschiedenen Lesarten analysiert werden. Diese Verwendung macht sich die von Hans Tietgens vertretene Auffassung einer Strukturhomologie zunutze, wonach der interpretative Ansatz der Erwachsenenbildung insofern in besonderer Weise adäquat ist, als die Probleme der Erwachsenenbildung selbst solche der Situationsinterpretation sind.

Nach der Etablierung der qualitativen Erwachsenenbildungsforschung (Weiterbildungsforschung) scheinen – in Übereinstimmung mit Tendenzen in der Soziologie und der Allgemeinen Erziehungswissenschaft – die kämpferische Gegenüberstellung von sinnverstehenden und messenden Verfahren sowie die jeweilige pauschale Unterordnung unter ein Paradigma zunehmend zugunsten einer pragmatischen Verbindung der Vorteile beider Ansätze zurückzutreten und so eine beide Paradigmen übergreifende Trian­gulation zu befördern.

Literatur

Friebertshäuser, B., Langer, A. & Prengel, A. (Hrsg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der ­Erziehungswissenschaft. Weinheim: Beltz Juventa.

Keller, R. (2012). Das Interpretative Paradigma: Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS.

Schäffer, B. & Dörner, O. (Hrsg.). (2012). Handbuch Qualitative Erwachsenen- und Weiterbildungs­forschung. Opladen: Barbara Budrich.

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