Interdisziplinarität

Rudolf Stichweh

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-145

Die Entstehung von I. setzt ein hinreichend großes und hinreichend diverses System wissenschaftlicher Disziplinen voraus, in dem die Komplexität der Beziehungen zwischen diesen Disziplinen mit dem Begriff I. bezeichnet wird. Dies ist eine Bedingung, die im Wissenschaftssystem der Moderne ca. um 1850 erfüllt ist (Stichweh, 1984), einem Zeitpunkt, zu dem immer neue Disziplinen in den Natur- und Geisteswissenschaften entstehen, die Sozialwissenschaften aber nur in ersten Ansätzen (meist als Staatswissenschaften) vorhanden sind und zugleich erste Anzeichen der Entstehung eines neuen Typus von Technikwissenschaften registriert werden können.

Außer der Komplexität des Systems wissenschaftlicher Disziplinen ist dessen innere Dynamik wichtig. Anders, als dies in der Vormoderne der Fall war, ist die moderne Ordnung des Wissens weder hierarchisch strukturiert noch von der Art, dass sie die Wissensbestände voneinander trennt und dadurch immobilisiert. Sie ist vielmehr lateral und dynamisch. Die Wissensbestände werden aufeinander bezogen und treten in Interaktionen, in denen sie einander fordern und herausfordern und dadurch in Bewegung geraten.

In dieser Welt, in der I. ein anderes Wort für die jede Disziplin bestimmende innere (d. h. wissenschaftssysteminterne) Umwelt der anderen wissenschaftlichen Disziplinen ist, entstehen immer neue Formen und Funktionen der I.:

  1. Transfer und Innovation: I. ist die bestimmende Form des Wissenstransfers und des Generierens von Innovationen im Wissenschaftssystem der Moderne. Methoden und Theorien und andere epistemische Bausteine werden unablässig zwischen den Disziplinen transferiert und lösen im disziplinären Kontext ihrer Rezeption Innovationen aus, die manchmal so weittragend sind, dass sie neue Disziplinen hervorbringen (Ben-David & Collins, 1966).
  2. Kompetition: Eine zweite Form der I. ruht nicht auf Transfers, sondern hat die Form der laufenden Beobachtung einer oder mehrerer anderer Disziplinen durch die Forschenden einer bestimmten Disziplin. Man wählt den eigenen Entwicklungspfad auf der Basis der Beobachtung des Entwicklungspfads einer anderen Disziplin, mit der man über Beziehungen der Kompetition oder des Konflikts verbunden ist. Dies kann einzelne Transfers einschließen, aber der Kern liegt in der Wahl der eigenen Trajektorie auf der Basis der Beobachtung der Trajektorie anderer Disziplinen.
  3. Kooperation und Exzellenz: In dem Maße, in dem wissenschaftliche Kooperation zur dominanten Arbeitsform der Wissenschaft wird (Netzwerke – Kooperationen), findet I. zunehmend auch im einzelnen wissenschaftlichen Projekt und in den zugehörigen Publikationen statt. Man sucht Kooperationspartner, die die Leistungsfähigkeit und den Blickwinkel anderer Disziplinen einbringen, und man muss dies auch deshalb tun, weil bei der Begutachtung der eingereichten Publikationen und Projekte die Berücksichtigung komplementärer Perspektiven eingemahnt wird. Projekte und Publikationen, die es mit komplexen gesellschaftlichen Problemlagen zu tun haben, tendieren heute oft dazu, I. in der Form der Multidisziplinarität zu realisieren.
  4. Epistemologische Selbstreflexion: Eine vierte Form und Funktion von I. verdankt sich dem selbstkritischen Impuls, die Beobachtungen, die man in der Forschung anstellt, durch Beobachtungen zu relativieren, die sich den Perspektiven anderer Disziplinen verdanken. In dieser Sicht geht es um die epistemologische Klärung der Bedingungen des eigenen Beobachtens, also um Selbstreflexion, und es ist diese Funktionsstelle, an der sich I. am deutlichsten mit dem Hochschulunterricht verknüpft, weil auch dieser Disziplinarität der Ausbildung und interdisziplinäre Kontextierung verbinden sollte. I. ist insofern auch ein entscheidender Teil der Horizonterweiterungen, die genuin wissenschaftliche Bildung ( wissenschaftliche Weiterbildung) verlangt (Stichweh, 2017).
  5. Norm: Vielfach ist I. heute auch eine Norm, v. a. in den Institutionen der Forschungsförderung, die interdisziplinäre Anteile in Projekten verlangen. Begründungen für diese Norm lassen sich in den genannten Formen und Funktionen der I. leicht finden. Nur ist die autonome Dynamik der I. im Wissenschaftssystem so auffällig, dass man zweifeln kann, ob es diese Norm zusätzlich braucht.

Literatur

Ben-David, J. Collins, R. (1966). Social factors in the origin of a new science. The case of psychology. Ameri­can Sociological Review, 31(4), 451–465.

Frodeman, R. (Ed.). (2017). The Oxford handbook of interdisciplinarity. Oxford (GB): Oxford University Press.

Stichweh, R. (1984). Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740–1890. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Stichweh, R. (2017). Interdisziplinarität und wissenschaftliche Bildung. In H. Kauhaus & N. Krause (Hrsg.), Fundiert forschen. Wissenschaftliche Bildung für Promovierende und Postdocs (S. 181–190). Wiesbaden: Springer VS.

Interaktion – Kommunikation
Intergenerationelle Bildung