Sigrid Nolda
DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-144
Unter I. wird die wechselseitige Beeinflussung des Handelns von mindestens zwei Personen bzw. die elementare soziale Einheit verstanden, in der Menschen ihr Verhalten aneinander orientieren. I. und K. werden häufig synonym verwendet; es hat sich aber als sinnvoll erwiesen, die I. in Abhebung von der K. als eine Situation zu verstehen, bei der die Beteiligten gleichzeitig anwesend sind. Im Sinne des → symbolischen Interaktionismus versuchen diese auf der Grundlage von gemeinsam geteilten Bedeutungen und Verhaltensmustern jeweils die Reaktionen der anderen vorausgreifend zu berücksichtigen und sich mit ihnen über die Bedeutung der Situation zu verständigen. Während der symbolische Interaktionismus Deutung (→ Deutungsmuster) und Verständigung (→ Verstehen – Verständigung) hervorhebt, betont die systemtheoretisch-konstruktivistische Sicht (→ Konstruktivismus) die sog. doppelte Kontingenz von I. und schenkt dem Phänomen der Beobachtung und des Wahrgenommenwerdens Aufmerksamkeit.
Das Interesse der Erwachsenenbildung am interaktionellen Geschehen in Lerngruppen war zunächst eher von der → Gruppendynamik und von der Kommunikationstheorie von Paul Watzlawick et al. mit Axiomen und Begrifflichkeiten wie „digitale“ bzw. „analoge“ K. oder „komplementäre“ bzw. „symmetrische“ I. und Metakommunikation geprägt. Auf dieser Basis sind Verhaltensempfehlungen für Unterrichtende, aber auch konkrete Vorgaben für die Beobachtung und Analyse von unterrichtlicher I. (→ Hospitation) entwickelt worden. Das Interesse an Fragen der I. wurde in der Erwachsenenbildung gewöhnlich normativ oder kritisch gegenüber gesellschaftlichen Machtverhältnissen diskutiert. Angestrebt wurde die Etablierung einer für Bildungs- bzw. Lernzwecke optimalen I., die bspw. die Ziele der → Teilnehmerorientierung oder der diskursiven Verständigung (→ Diskurs) im Sinne des Modells der idealen Sprechsituation von Jürgen Habermas erfüllen soll.
Ein wesentliches Motiv für die Durchführung von Interaktionsanalysen in der Erwachsenenbildung war es deshalb zunächst, die diffus wahrgenommenen Lern- und Verständnisbarrieren bildungsungewohnter Teilnehmender auf den Begriff zu bringen und auf dieser Grundlage didaktische Verfahren oder Verhaltensempfehlungen zu entwickeln. Neuere Untersuchungen zur I. im Bereich der Erwachsenenbildung streben eher eine Beschreibung des komplexen und deutungsabhängigen Ist-Zustands an. Die Basis solcher Untersuchungen bilden verschriftlichte Protokolle oder Videoaufnahmen von Unterrichtsgesprächen (→ Unterricht) und Beratungsgesprächen (→ Beratung im Kontext lebenslangen Lernens) als einem besonderen Typus von erwachsenenpädagogischer institutioneller I. Dabei geht es um die Rekonstruktion von Mustern, die die I. regeln, aber auch um die Entdeckung von bisher nicht wahrgenommenen und/oder thematisierten Phänomenen des Lehr- und Beratungshandelns, der wechselseitigen Orientierung, der Aufmerksamkeitssteuerung, des Verhältnisses zwischen verbaler und non-verbaler I. und der Bedeutung von Raumsituation (→ Raum), schriftlichen Materialien und Gegenständen für die I. (→ Medien in Lehr-Lern-Prozessen). Im Rahmen der ethnografischen → Organisationsforschung können Studien, die – ausschließlich oder im Verbund mit anderen Erhebungen – Interaktionen festhalten, Einblicke in die realen Abläufe des Arbeitshandelns in → Institutionen der Weiterbildung vermitteln und zu dessen Optimierung beitragen. Schließlich ist bei Face-to-face-Interviews immer auch die I. zwischen Fragenden und Befragten zu berücksichtigen, um mögliche Beeinflussungen der gemachten Aussagen erkennen zu können. Für die Praxis können neben der Rezeption der Ergebnisse von Interaktionsstudien Protokolle und Aufnahmen von Interaktionen im Rahmen von → Fortbildungen genutzt werden, die dazu dienen sollen, unter handlungsentlasteten Bedingungen die entsprechende Deutungskompetenz von Praktikerinnen und Praktikern zu entwickeln bzw. ihre → Professionalität zu bestimmen.
Das Vordringen virtueller K. mit videointegrierten Tools bewirkt eine Aufweichung des Gegensatzes zwischen I. und K. Dies führt zu neuen Verhaltensformen von Unterrichtenden und Beratenden sowie ihrer Klientel und stellt Forschende vor neue Herausforderungen der Datensicherung, -bearbeitung und -interpretation.
Literatur
Digel, S. & Schrader, J. (Hrsg.). (2013). Diagnostizieren und Handeln von Lehrkräften. Lernen aus Videofällen in Hochschule und Schule (Reihe EB Buch, Bd. 35). Bielefeld: wbv Publikation.
Nolda, S. (2012). Interaktionsforschung in der Erwachsenenbildung. In B. Schäffer & O. Dörner (Hrsg.), Handbuch Qualitative Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung (S. 407–418). Opladen: Barbara Budrich.
Stanik, T. (2015). Beratung in der Weiterbildung als institutionelle Interaktion. Frankfurt a. M.: Peter Lang.