Intelligenzentwicklung im Erwachsenenalter

Cora Titz & Marcus Hasselhorn

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-143

Die in der Psychologie angesiedelte Forschung zur Entwicklung der I. sieht sich seit langem Vorbehalten gegenüber, die sich v. a. auf die psychometrische Erfassung der I. und die Folgen dieser Erfassung für die getesteten Personen beziehen. Seit geraumer Zeit liegt jedoch mit dem Cattell-Horn-Carroll-Strukturmodell (CHC-Modell) der I. ein theoretisch gut abgesichertes Arbeitsmodell vor (Stern & Neubauer, 2016), das die klassischen Ansätze und Erkenntnisse von Raymond B. Cattell, John L. Horn und John B. Carroll vereint. Im CHC-Modell ist I. hierarchisch aufgebaut. Auf der obersten von drei Ebenen (Stratum III) wird ein übergeordneter Generalfaktor angenommen, der sich aus zwei untergeordneten Ebenen speist. Auf der mittleren Ebene (Stratum II) finden sich 16 breit gefasste Fähigkeitsbereiche, zu denen bspw. das erworbene Wissen mit der sog. kristallinen I. gehört sowie die Verarbeitungsgeschwindigkeit und das logische Schlussfolgern mit der sog. fluiden I. Auf der untersten Ebene (Stratum I) sind 80 enger gefasste Fähigkeiten angesiedelt (z. B. Kenntnisse in einer Fremdsprache).

Der vielleicht folgenschwerste Irrtum für die Bildungspraxis ist, dass Unterschiede in der I. weitestgehend erblich bedingt seien und deshalb Umwelteinflüsse für die Entwicklung der I. unwirksam blieben. Hier wird ignoriert, dass Gene die optimale Ausprägung eines (erblich bedingten) Persönlichkeitsmerkmals nur unter bestimmten Umweltbedingungen auch tatsächlich steuern können (Stern & Neubauer, 2016). Ob die genetische Ausstattung wirksam wird, hängt also wesentlich vom jeweiligen Umfeld ab, z. B. den Lerngelegenheiten, der Förderung, den verfügbaren und genutzten Bildungsangeboten (Angebot). Gerade bei Erwachsenen mittleren Alters (etwa 40 bis 65 Jahre) ist im Vergleich zu anderen Altersgruppen die weitere Entwicklung kognitiver Fähigkeiten (Kognition) am stärksten durch die jeweiligen Umweltanforderungen (Lebenswelt) bestimmt.

Die Entwicklung der I. über die Lebensspanne verläuft multidirektional, d. h. ihre beobachtbaren Ausprägungen verändern sich für verschiedene Fähigkeitsbereiche des CHC-Modells in unterschiedliche Richtungen. Befunde zur Entwicklung der I. im Erwachsenenalter werden seit dem frühen 20. Jh. auch zur Begründung von Bildungsangeboten herangezogen. Am besten belegt sind entwicklungsbedingte Veränderungen für die fluide und kristalline I. In der Entwicklungspsychologie (Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters) führte Paul Baltes hierfür die Begriffe „Mechanik“ und „Pragmatik“ der I. ein. Unter Mechanik wird die Geschwindigkeit, Genauigkeit und Koordination von Informationsverarbeitungsprozessen verstanden. Sie ist biologisch basiert und wissensfrei. Für die Mechanik sind bereits ab etwa dem 35. Lebensjahr Abbauerscheinungen in der Wahrnehmungsgeschwindigkeit nachweisbar und ab etwa dem 50. Lebensjahr für die Koordination simultaner Anforderungen. Die Pragmatik intellektueller Fähigkeiten umfasst durch Bildung erworbenes Wissen und bleibt bei gesunden Personen bis ins hohe Alter stabil oder kann sogar Zuwächse verzeichnen (Altersbildung – Alternsbildung – Altenbildung). Für den Erwerb kulturbedingten Wissens müssen jedoch fluide Funktionen genutzt werden. Ein Nachlassen der Mechanik kann im späteren Erwachsenenalter zunächst noch durch die Pragmatik ausgeglichen werden (Kray & Lindenberger, 2007). Im sehr hohen Alter ab etwa 80 Jahren ziehen jedoch Einbußen in der Mechanik auch Verschlechterungen in der Pragmatik nach sich.

Während in der frühen Kindheit intellektuelle Leistungen v. a. vom bereichsübergreifenden Generalfaktor auf der obersten Ebene des CHC-Modells bestimmt werden, nimmt dessen Bedeutung mit zunehmendem Alter aufgrund der Reifung des Gehirns und des Erwerbs bereichsspezifischen Wissens ab. Gleichzeitig nimmt die Bedeutung erworbenen bereichsspezifischen Wissens für die Bewältigung von Lernanforderungen im Erwachsenenalter zu. Erst im hohen Alter (ab ca. 80 Jahren) führen dann jedoch die übergreifenden biologisch basierten Einbußen in Mechanik und Pragmatik dazu, dass die Bedeutung des Generalfaktors für die Erbringung von Lernleistungen wieder ansteigt.

Literatur

Brandtstädter, J. L. & Lindenberger, U. (2007). Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Stuttgart: Kohlhammer.

Kray, J. & Lindenberger, U. (2007). Fluide Intelligenz. In J. L. Brandtstädter (Hrsg.), Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Ein Lehrbuch (S. 194–220). Stuttgart: Kohlhammer.

Stern, E. & Neubauer, A. (2016). Intelligenz: kein Mythos, sondern Realität. Psychologische Rundschau, 67(1), 15–27.

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