Institutionalisierung

Michael Schemmann

DOI: https://doi.org/10.35468/wbeb2022-141

Der Begriff I. hat in der Erwachsenen- und Weiterbildung v. a. zwei Bedeutungen:
(1) Zum einen wird unter I. der Prozess der Entstehung von Organisationen bzw. einer Struktur von Organisationen der Weiterbildung (Institutionen der Weiterbildung) verstanden (strukturbezogenes Verständnis). Dabei wird häufig darauf verwiesen, dass der Institutionalisierungsgrad der Weiterbildung geringer sei als der anderer Segmente des Bildungswesens. Der gegenläufige Prozess wird als „De-Institutionalisierung“ bezeichnet. (2) Zum anderen wird unter I. der Prozess der Verfestigung von Verhaltensmustern verstanden, die dann generalisiert und typisiert werden und sich als handlungsleitend erweisen (soziologisches Verständnis). Der umgekehrte Prozess der Auflösung dieser Verhaltensmuster wird als „Ent-Institutionalisierung“ bezeichnet.

In der Weiterbildung hat es lange einen unscharfen Gebrauch des Begriffs „Institution“ gegeben. Dabei wurden „Organisation“, „Institution“, „Anbieter“ und „Einrichtung“ weithin synonym verwendet. Erst allmählich hat sich das soziologische Verständnis durchgesetzt, das „Institution“ deutlich von „Organisation“ unterscheidet. Demnach sind In­sti­tu­tio­nen Komplexe von sozialen Regelungen, denen in der Gesellschaft eine zentrale Bedeutung zukommt (z. B. Ehe oder Eigentum) und die als Handlungs- und Beziehungsmuster deutlich erkennbar sind. Es sind Sachverhalte der Sozialwelt, „die dauerhaft (Permanenz) sowie unabhängig von sozialen Akteuren bestehen (Externalität und Objektivität), bestimmte gesellschaftliche Leitideen repräsentieren (Sinnbezug) und darüber hinaus Einfluss auf das soziale Handeln nehmen (Regulation)“ (Koch & Schemmann, 2009, S. 22).

In theoretischer Hinsicht rücken verschiedene Ansätze von I. und Institutionen in den Vordergrund, z. B. der Historische Institutionalismus, der akteurszentrierte Institutionalismus oder der Neo-Institutionalismus. Insb. der Neo-Institutionalismus hat in der Weiterbildungsforschung eine gewisse Resonanz gefunden. Eine grundlegende Arbeit zu I. und Institutionen stammt von Scott (2001). Er unterscheidet drei Formen von In­sti­tu­tio­nen: (1) Regulative Institutionen lassen sich als formulierte Regeln und Gesetze kennzeichnen, die über Zwang regelhafte Handlungen erzeugen. (2) Normative Institutionen hingegen bringen Handlungen durch Normen und Werte hervor, die kennzeichnen, was gewünschtes oder abzulehnendes Verhalten ist. (3) Kognitive Institutionen schließlich erzeugen regelhafte Handlungen durch geteilte Vorstellungen, Glaubens- oder Bedeutungssysteme, die auch als „Skripte“ bezeichnet werden. „Der Begriff des Skripts verweist darauf, dass die durch kognitive Institutionen geregelten Handlungen routinemäßig, selbstverständlich und quasiautomatisch ablaufen“ (Senge, 2006, S. 39). Zusammenfassend lässt sich in diesem Verständnis unter „Institutionen“ alles versammeln, woraus dauerhafte Handlungen ableitbar sind.

Insb. neuere Entwicklungen der Theoriebildung im Neo-Institutionalismus wenden sich auch Erklärungen von I. zu. Mit Blick auf neu entstehende Institutionen gelten ressourcenstarke Akteure, sog. institutional entrepreneurs, als besonders wichtig. Notwendige Voraussetzung für dieses institutionelle Unternehmertum ist ein klar identifizierbares Institutionalisierungsprojekt, das in der Wahrnehmung einflussreicher Akteure die Chance bietet, ihre Interessen zu verwirklichen. Sowohl individuelle als auch überindividuelle Akteure können als institutionelle Unternehmer agieren: Individuen, Netzwerke und soziale Bewegungen oder auch – v. a. im Kontext von Professionen – Organisationen und Verbände (Hardy & Maguire, 2013, S. 200).

Institutionelle Unternehmer betreiben zudem institutional work. Diese institutionelle Arbeit übt einen verändernden Einfluss auf die bestehenden institutionellen Strukturen aus, wenn es gelingt, die Unterstützung anderer gesellschaftlicher Gruppen zu gewinnen. Dabei ist die sprachliche Vermittlung des Institutionalisierungsprojekts besonders wichtig. Das Zusammenschmieden unterschiedlicher Akteure in neuen Konstellationen, die Initiierung von Seilschaften zwischen mehreren ressourcenstarken Akteuren und die Verbreitung legitimierender Erzählungen sind für eine erfolgreich verändernde institutionelle Arbeit durch institutionelle Unternehmer von zentraler Bedeutung (ebd., S. 206). In der Weiterbildung finden sich Arbeiten im Anschluss an diese theoretischen Überlegungen bspw. mit Blick auf den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) für Sprachen.

Hinsichtlich des strukturbezogenen Verständnisses von I. als Entstehung von Organisationen bzw. einer Struktur von Organisationen der Weiterbildung ist zunächst festzuhalten, dass der Weiterbildungsbereich plural und subsidiär verfasst ist. Entsprechend reicht die Bandbreite an Trägern und Anbietern von beruflichen und betrieblichen Weiterbildungsorganisationen über private Weiterbildungsanbieter, Einrichtungen von alten und neuen sozialen Bewegungen, Hoch- und Berufsschulen bis hin zu Volkshochschulen (vhs). Mit dieser Pluralität (Pluralismus) korrespondiert auch eine Vielfalt an Institutionalisierungsformen. Nach Seitter (2007) lassen sich diese auf einer bipolaren Achse verorten, die auf der einen Seite durch den Pol „einer partikularen, lebensweltlich gebundenen, in private Milieus eingelagerten, vereinsmäßig organisierten und nachfrageorientierten Bildungsarbeit mit Erwachsenen“ und auf der anderen Seite durch den Pol „einer öffentlichen, flächendeckenden, organisatorisch verfestigten, allzugänglichen und angebotsorientierten Erwachsenenbildung begrenzt ist“ (ebd., S. 18).

Historisch gesehen nimmt die I. der Erwachsenenbildung Ende des 18. Jh. mit der Begründung von Clubs, Lesezirkeln, Museums- oder Casinogesellschaften, von patriotisch-gemeinnützigen Gesellschaften zur Verbreitung von Kenntnissen der Gewerbeförderung sowie Einrichtungen zur Volksaufklärung im ruralen Bereich ihren Anfang (Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – bis 1918). Ab Mitte des 19. Jh. erlebt die Erwachsenenbildung einen weiteren Institutionalisierungsschub durch die Entstehung der Arbeiterbildungsvereine (Arbeiterbildung), aber auch durch die überregionale Vernetzung in Gesellschaften. Zuvorderst ist hier die Gesellschaft für die Verbreitung von Volksbildung von 1871 zu nennen. Der Staat übernahm erst im 20. Jh. mit der Aufnahme des Artikels 148 in die Weimarer Verfassung Verantwortung für die Erwachsenenbildung (öffentliche Verantwortung). Dort heißt es in Absatz 4: „Das Volksbildungswesen einschließlich der Volkshochschulen soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden.“ In der Folge fand ein Gründungsboom von mehr als 170 vhs allein in den ersten drei Jahren der Weimarer Republik statt (Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland – von 1918 bis 1933).

Weitere Impulse für den Institutionalisierungsprozess ergaben sich für die Bundesrepublik Deutschland aus dem Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen aus dem Jahr 1960, den Empfehlungen des „Strukturplans für das Bildungswesen“ des Deutschen Bildungsrats aus dem Jahr 1970 sowie durch die Ländergesetze zur Erwachsenenbildung in den frühen 1970er Jahre (Recht der Weiterbildung). Angestrebt wurde die weitere I. der Erwachsenenbildung sowie deren Ausbau zum quartären Sektor des Bildungswesens. Neben gesetzlichen Regelungen wurden für bauliche Maßnahmen und die Förderung von Einrichtungen in staatlicher Trägerschaft sowie die Mitfinanzierung nicht-staatlicher und privater Einrichtungen erhebliche Ressourcen bereitgestellt (Finanzierung der Weiterbildung). Allerdings geriet der Ausbau angesichts der Krise der öffentlichen Haushalte ins Stocken. Dennoch expandierte der Weiterbildungsbereich im Laufe der 1980er und 1990er Jahre, entfernte sich aber auch immer weiter von den Planungsvisionen der 1970er Jahre und vom ursprünglichen Referenzmodell des öffentlichen Schulwesens. Die Expansion fand v. a. im Bereich der innerbetrieblichen Weiterbildung (betriebliche Weiterbildung) und im Kontext der neuen sozialen Bewegungen statt. Ein weiterer Impuls der I. ist zudem in der vermehrten Gründung von privaten Einrichtungen Anfang der 1990er Jahre zu sehen. Insgesamt ergibt sich in der Erwachsenen- und Weiterbildung also eine vielfältige Struktur an Einrichtungen, für welche eine „institutionelle Staffelung“ (Tietgens, 1991) kennzeichnend ist. Mit diesem Begriff verweist Tietgens auf die Trias von Veranstaltungen, Weiterbildungsorganisation und Träger, wobei dieses Gefüge insofern störungsanfällig ist, als nur der Träger rechtsrelevant ist und damit die Autonomie der professionell Handelnden nicht gewährleistet ist.

Der Bereich der Weiterbildung ist jedoch auch immer durch Prozesse der De-Institutionalisierung gekennzeichnet. Durch die Zunahme von Prozessen des Lernens am Arbeitsplatz sowie des informellen oder selbstgesteuerten Lernens (Selbstorganisation –
Selbststeuerung – Selbstlernen
) verliert die organisierte Weiterbildung ihre Exklusivität. Bereits zu Beginn der 2000er Jahre rückte die Entgrenzungsdebatte die zunehmende Unschärfe der Grenzen der Erwachsenenbildung in den Blick und fokussierte neue Formen der sozialen Ordnung des Lernens Erwachsener. Der tiefgreifende Strukturwandel in der Weiterbildung und der Digitalisierungsschub durch die COVID-19-Pandemie wird den Prozess der De-Institutionalisierung nochmals befördert haben.

Literatur

Hardy, C. & Maguire, S. (2013). Institutional entrepreneur. In R. Greenwood, C. Oliver, K. Sehlin & R. Suddaby (Eds.), The Sage handbook of organizational institutionalism (pp. 198–217). London (GB): Sage.

Koch, S. & Schemmann, M. (2009). Entstehungskontexte und Grundlegungen neo-institutionalistischer Organisationsanalyse. In S. Koch & M. Schemmann (Hrsg.), Neo-Institutionalismus in der Erziehungswissenschaft. Grundlegende Texte und empirische Studien (S. 20–27). Wiesbaden: Springer VS.

Reichardt, E., Christ, J. & Denzl, E. (2021). Anbieter und Angebot in der Weiterbildung. In S. Widany, E. Reichart, J. Christ & N. Echarti (Hrsg.), Trends der Weiterbildung. DIE Trendanalyse 2021 (Reihe DIE Survey. Daten und Berichte zur Weiterbildung, Bd. 10, S. 46–145). Bielefeld: wbv Publikation.

Scott, W. R. (2001). Institutions and organizations. Thousand Oaks (US): Sage.

Seitter, W. (2007). Geschichte der Erwachsenenbildung: Eine Einführung (Reihe Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung, Bd. 9). Bielefeld: W. Bertelsmann.

Senge, K. (2006). Zum Begriff der Institution im Neo-Institutionalismus. In K. Senge & K.-U. Hellmann (Hrsg.), Einführung in den Neo-Institutionalismus (S. 35–47). Wiesbaden: Springer VS.

Tietgens, H. (1991). Institutionelle Strukturen der Erwachsenenbildung. In Pädagogische Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschul-Verbands. (Hrsg.), Gesellschaftliche Voraussetzungen der Erwachsenenbildung (Reihe Studienbibliothek für Erwachsenenbildung, Bd. 1, S. 140–158). Frankfurt a. M.: PAS DVV.

Innovation
Institutionen der Weiterbildung